Glossar

Mit dem am 10.06.2021 in Kraft getretenen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) sind zunächst keine Änderungen bezüglich der Anspruchsinhaberschaft zu verzeichnen.

Das KJSG behält die Trennung zwischen Rechtsansprüchen der Eltern und Rechtsansprüchen der Kinder und Jugendlichen wie bislang gültig bei. Ob die Frage im Kontext der geplanten Reform zur Gesamtuständigkeit der Kinder-und Jugendhilfe für ALLE Kinder und Jugendlichen ab 2027/28 in den Fachdebatten neu aufgerollt werden wird, ist aktuell nicht absehbar.

Bislang ist die Frage nach der Anspruchsinhaberschaft  als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Leistungen aus dem Bereich SGB VIII bzw. aus dem Bereich der Eingliederungshilfe (SGB IX und SGB XII) folgendermaßen gestaltet:

Bei den Hilfen zur Erziehung  (HzE, §§ 27-35 SGB VIII) sind die Personenberechtigten,  zuvorderst also die leiblichen Eltern, Anspruchsinhaber.

Bei Leistungen der Eingliederungshilfe  für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung gem. §35 a SGB VIII bzw. jungen Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen gem. § 53 SGB XII, liegt die Anspruchsinhaberschaft hingegen auf Seiten des Kindes bzw. des Jugendlichen selbst.

Vor diesem Hintergrund wurde im Zuge der Debatten um eine Novellierung des SGB VIII im Sinne einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe die Frage nach der Anspruchsinhaberschaft intensiv diskutiert. Es stand die Frage im Raum, ob – über einen notwendigerweise beim jungen Menschen selbst verorteten Hilfeanspruch auf Eingliederungshilfe – auch der Anspruch auf Hilfen zur Erziehung (§ 27 ff SGB VIII) bei den jungen Menschen und/oder ihren Sorgeberechtigten liegen sollte.

Als Begründungslinien für die Einführung eines Rechtsanspruchs auch auf Seiten der Kinder und Jugendlichen in den HzE wurde zum einen die Kinderrechtsdebatte ins Feld geführt. Sollte insbesondere die spezifische Lebenslage von Jugendlichen –  zunehmend eigenständig und auf dem Weg in die Autonomie vom Elternhaus – im SGB VIII hinreichend Berücksichtigung finden, sei die Gewährung eines eigenen Rechtsanspruchs nahezu zwingende Konsequenz. In diese Stoßrichtung zielte auch das Argument aus einer Stellungnahme der AGJ aus dem Jahr 2013: Da Kinder und Jugendliche letztlich immer Adressaten der Kinder- und Jugendhilfe sind, sei es nur folgerichtig, ihnen auch einen eigenen Rechtsanspruch in den HzE zu gewähren. Zum anderen wurde – vor allem aus den Fachverbänden der Behindertenhilfe – gefordert, dass die in der Kinder- und Jugendhilfe traditionell gewachsene familiensystemische Betrachtung des jeweiligen Falls auch in der (Eingliederungs)Hilfeplanung für Kinder und Jugendliche Normalität werden sollte. Eben jene familiensystemische Betrachtung beiße sich aber – so Stimmen von Vertreter*innen  aus der KJH und der Behindertenhilfe gleichermaßen – mit der bisher noch gültigen Entweder-Oder-Zuweisung des Rechtsanspruchs nur an die Eltern (§§ 27 ff SGB VIII) bzw. nur an die jungen Menschen (§ 35a SGB VIII und § 53 SGB XII) (vgl. Schönecker 2018 und Dokumentation 2. Expertengespräch des Dialogforums, S. 45).

Gerade bei komplexen Bedarfslagen (etwa: Kinder psychisch kranker Eltern, Kinder von Eltern mit intellektuellen Beeinträchtigungen, Pflegekinder mit Beeinträchtigungen) ist der Einsatz flexibel gestaltbarer und individuell zugeschnittener Unterstützungsleistungen notwendig. Dazu könnte die Gestaltung eines Sowohl-als-auch-Rechtsanspruchs – also sowohl auf Seiten der Kinder und Jugendlichen als auch auf Seiten der Eltern – hilfreich sein.

Insbesondere im Zusammenhang mit den Diskussionen zur „Zusammenführung der Leistungen der Hilfen zur Erziehung (HzE) und der Eingliederungshilfe“ (ehemals: einheitlicher Tatbestand oder auch: Einführung eines neuen Leistungstatbestandes „Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe“ in das SGB VIII) wurde und wird die Frage nach der Anspruchsinhaberschaft intensiv diskutiert.

Literaturangaben

Coester, Ruth; Müller-Fehling, Norbert (2017): Ein neuer Anlauf für die Inklusive Lösung. Vorstellungen der Fachverbände für Menschen mit Behinderung zu einer Reform des SGB VIII. In: Das Jugendamt, Heidelberg: Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht; 90 Jg., Nr. 10, S. 476-480.

Schönecker, Lydia (2018): Inklusive Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Von der Konstruktion zweier Hilfesysteme unter einem Dach und den dafür zu betrachtenden Zwischenräumen. In: Dialog Erziehungshilfe, Hannover: AFET – Bundesverband für Erziehungshilfe e.V.; Nr. 1/2018, S. 9-16.

Zusammenführung der Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfen im SGB VIII. Eine fachlich-inhaltliche Positionierung. Dokumentation der Ergebnisse des 2. Expertengesprächs am 26. und 27. Oktober 2017 in Berlin. Unter: https://jugendhilfe-inklusiv.de/sites/default/files/2023-06/ergebnis_exp_2.pdf

Zu dem Begriff  Bedarf   ist zu allererst festzuhalten, dass er einerseits von maximaler praktischer Relevanz ist: ein Bedarf begründet die Leistungsverantwortlichkeiten in den Sozialleistungssystemen. Andererseits ist weder fachlich noch konzeptionell eindeutig geklärt, was der Begriff konkret bezeichnet. Allgemein gesprochen können wir den Begriff Bedarf als Differenzkategorie  fassen: Subjektiven Wünschen und Zielen einer Person können physiologisch, psychologisch und sozial bedingte Barrieren gegenüberstehen, die eine Verwirklichung der persönlich angestrebten Ziele oder Wünsche in weite oder unerreichbare Ferne rücken. Darüber hinaus wohnt dem Bedarfsbegriff ein zweites Spannungsverhältnis inne, das Schäfers und Wansing 2016 folgendermaßen beschreiben: „Es geht darum, einen Alltag aus der Perspektive eines Menschen, der Unterstützung benötigt, um ein Leben nach „eigensinnigen“ Vorstellungen leben zu können, mit sozialstaatlichen Konzepten, Terminologien und Instrumenten abbildbar, handhabbar und für das Hilfesystem anschlussfähig zu machen.“ (ebd., S.9).

In der Kinder- und Jugendhilfe und in der Behindertenhilfe wird der Bedarfsbegriff jeweils unterschiedlich spezifiziert und mit Blick auf verschiedene „Bedarfslagen“ verwendet.

Auf der Seite der Behindertenhilfe/Eingliederungshilfe werden die Begriffe Teilhabebedarf und Rehabilitationsbedarf im BTHG synonym verwendet, sind zugleich aber nicht eindeutig definiert. Ein Rehabilitations- oder Teilhabebedarf ergibt sich im BTHG auf der Grundlage des bio-psycho-sozialen Modells von Behinderung aus dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren (psychologisch, physiologisch, sozial), das einer vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe am Leben der Gesellschaft (§ 1 Abs. 1 SGB IX n.F.) hinderlich entgegensteht. Kritisch eingewandt werden kann dazu, dass der Begriff „Rehhabilitation“ durch seine medizinische Perspektivierung deutlich eine in der Zukunft erreichbare Genesung impliziert. Diese Perspektive beißt sich aber mit dem bio-psycho-sozialen Modell von Behinderung. Konsequent und erleichternd für eine Verständigung unter den verschiedenen im Feld der Eingliederungshilfe tätigen Professionen wäre daher eine durchgängige Verwendung des Teilhabebegriffs.

In der Fachcommunity der Kinder- und Jugendhilfe ist demgegenüber der Begriff erzieherischer Bedarf etabliert. In § 27 Abs. 1 SGB VIII (unverändert) heißt es: „Ein Personenberechtigter hat bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung) wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist.“  Gemeint ist damit der Bedarf einer Familie, eines Kindes oder eines Jugendlichen an Unterstützung, um ein „gelingendes Aufwachsen“ sicherstellen zu können. Daneben besteht ebenfalls in der Kinder- und Jugendhilfe – etwas veraltet – die Rede vom behinderungsbedingten Bedarf als Pendant zu den sozial- und fachpolitisch konzeptionell weiterentwickelten und neu etablierten Begriffen Rehabilitations- bzw. Teilhabebedarf weiter fort. Dahinter mag die jahrzehntelange Praxis in der Kinder- und Jugendhilfe stehen, notwendigerweise zwischen erzieherischen und behinderungsbedingten Bedarfslagen unterscheiden zu müssen, wenn es um Kinder und Jugendliche mit einer (drohenden) seelischen Behinderung geht, die nach § 35a SGB VIII anspruchsberechtigt sind.

Unabhängig der verschieden spezifizierten Bedarfsbegriffe in den beiden Sozialleistungssystemen ist ein Bedarf stets als Momentaufnahme, als ein aktueller Zustand,  zu verstehen: Wie geht es dem Kind, Jugendlichen oder Erwachsenen jetzt? Wie ist die aktuelle Lebenssituation konstelliert?

Erst nach Feststellung des aktuellen Bedarfs werden die sog. Teilhabeziele, als Zustand, der in der Zukunft erreicht werden soll, gemeinsam mit der antragstellenden Person sowie ggf. den Sorgeberechtigten oder dem gesetzlichen Vertreter*in und/oder idealer Weise einer Vertrauensperson im Rahmen der in verschiedenen Sozialgesetzbüchern rechtlich normierten Hilfeverfahren (s. Glossar Teilhabeplanverfahren, Gesamtplanverfahren, Hilfeplanverfahren) beschrieben.

Bedarfe können komplexer und umfassender vorliegen, als die per Rechtsnorm ausdrücklich definierten Teilhabeleistungen.

Bedarfe begründende Leistungsverantwortlichkeiten bestehen in der Eingliederungshilfe und in der Kinder- und Jugendhilfe in den Bereichen

- der medizinischen Rehabilitation,

- der Teilhabe am Arbeitsleben,

- der Teilhabe an Bildung sowie

- der sozialen Teilhabe (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 6, Nr. 7 i.V.m. § 5 SGB IX).

Entsprechend sind Bedarfe an Teilhabeleistungen umfassend, d.h. ggf. auch rehabilitationsträgerübergreifend und leistungsgruppenübergreifend zu prüfen. Zudem ist der Bedarf einer Person in regelmäßigen Abständen zu evaluieren, um ggf. Veränderungen mit Blick auf die beschriebenen Teilhabeziele und gewährten Leistungen vornehmen zu können.

Aus der Perspektive einer Weiterentwicklung der beiden Hilfe- bzw. Sozialleistungssysteme Kinder- und Jugendhilfe und Behindertenhilfe wäre eine fachliche und konzeptionelle Verständigung über die unterschiedlich konnotierten und rechtlich hinterlegten Bedarfsbegriffe sowie eine daran anknüpfende Auseinandersetzung über fachliche  Zuständigkeiten, professionelle Selbstverständnisse sowie Grenzen des Machbaren wünschenswert. Im Sinne der Adressaten wäre eine durchgängige Verwendung des Begriffs Teilhabebedarf möglicherweise ein erster Schritt in eine klärende Richtung, der dem Kerngedanken der Inklusionsprogrammatik entspräche.

Literaturangaben

Schäfers, M./Wansing, G. (2016) (Hrsg.): Teilhabebedarfe von Menschen mit Behinderungen. Zwischen Lebenswelt und Hilfesystem. Stuttgart: Kohlhammer.

Weiterführende Informationen

Auf die Bedeutung des Begriffs Bedarf im SGB VIII und seine Folgen für die Jugendhilfeplanung macht Jacobs aufmerksam: Jacobs, Herbert (2019): Bedarfsbemessung und Bedarfsgerechtigkeit als Herausforderungen für die Jugendhilfeplanung am Beispiel Erziehungsberatung. In: NDV- Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V; Berlin: Selbstverlag; 99. Jg., Nr. 6, S. 273-278.  
 

Mit Bedarfsermittlung  ist sowohl in der Kinder- und Jugendhilfe als auch in der Eingliederungshilfe nach SGB IX der Vorgang zur Ermittlung von notwendigen und gewünschten (Teilhabe-)Leistungen/Hilfen für anspruchsberechtigte Personen gemeint (s. Glossar Bedarf).

Seit dem 01.01.2018 gilt in der Eingliederungshilfe ein bundeseinheitliches Bedarfsermittlungsverfahren nach dem Bundesteilhabegesetz (§ 19 SGB IX Teilhabeplan und Kapitel 7 Gesamtplan §§ 117 ff SGB IX), das jeweils auf der Ebene der Länder genauer konkretisiert werden muss. Nach den Grundsätzen aus dem SGB IX erfolgt die Bedarfsermittlung in der Regel auf die Zuständigkeitsklärung unter den verschiedenen Rehabilitationsträgern, nachdem der Bedarf einer Person einem Rehabilitationsträger (s. Glossar Rehabilitationsträger) bekannt geworden ist. Die Bedarfsermittlung ist vom zuständigen Rehabilitationsträger nach einem bundeseinheitlichen Verfahren, d.h. auch auf der Grundlage bundeseinheitlicher Kriterien – systematisiert, standardisiert, funktionsbezogen und individuell – mit länderspezifisch ausgearbeiteten Instrumenten durchzuführen (vgl. dazu § 13 SGB IX).

Systematisiert: Systematische Arbeitsprozesse wie z.B.: Erhebungen, Analysen, Dokumentationen, Ergebniskontrollen

Standardisiert: Standardisierte Arbeitsmittel, wie z.B. Checklisten, Fragebögen, Assessment- oder Diagnoseinstrumente

Individuell und funktionsbezogen: Grundsätzlich nach dem bio-psycho-sozialen Modell der Weltgesundheitsorganisation (WHO)

Die Bedarfsermittlung muss dokumentiert werden und nachprüfbar erfolgen. Das geschieht im Teilhabeplanverfahen. Erfasst werden soll (§ 13 Abs. 2 SGB IX), ob:

  • eine Behinderung vorliegt oder einzutreten droht,
  • welche Auswirkungen die Behinderung auf die Teilhabe hat,
  • welche Ziele zur Teilhabe erreicht werden sollen,
  • welche Leistungen im Rahmen einer Prognose zur Erreichung der Ziele voraussichtlich erfolgreich sind.

Die Bedarfsermittlung bildet die Basis für die Entscheidung über beantragte Leistungen; sie muss also zu einer sach- und fachgerechten Entscheidung über die erforderlichen und angemessenen Hilfen/Leistungen führen. Dabei sind auch Unterstützungen im Sozialraum sowie andere Leistungen und Träger zu berücksichtigen. Im Zentrum einer jeden Bedarfsermittlung (sowie der anschließenden Hilfeplanung) muss die Einbeziehung der antragstellenden Person – und im Falle von Kindern die Einbindung ihrer Eltern – eine Selbstverständlichkeit sein. Im BTHG ist die Beteiligung des Antragstellers/Leistungsberechtigten im gesamten Hilfeplanprozess verpflichtend festgeschrieben (vom Bekanntmachen des Bedarfs über die Bedarfsermittlung zur Festlegung der Teilhabeziele zum Leistungsbescheid und schließlich der Fortschreibung des Teilhabeplans/Gesamtplans/Hilfeplans/Förder- und Behandlungsplans). Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass Antragsteller*in, Leistungsträger und Leistungen ausführende Träger auf Augenhöhe kooperieren sollen.

Beteiligung und Mitbestimmung anspruchsberechtigter Personen im Kontext der Bedarfsermittlung sind in der Kinder- und Jugendhilfe insbesondere unter § 5 SGB VIII (Wunsch- und Wahlrecht), § 8 SGB VIII n.F. (Beteiligung von Kindern und Jugendlichen) und § 36 SGB VIII n.F. (Mitwirkung, Hilfeplan) rechtlich normiert. Die dort formulierten Grundsätze bleiben aber hinter den Regelungen aus dem § 8 SGB IX (Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten) und § 104 SGB IX (Leistungen nach Besonderheit des Einzelfalles) zurück, sofern es um die Berücksichtigung von „berechtigten Wünschen“ und die prioritäre Prüfung der Zumutbarkeit von Leistungen geht.

Für die Seite der Kinder- und Jugendhilfe gilt, dass die Bedarfsermittlung vom Jugendamt (in der Regel: ASD/KSD/RSD) als Teil des Hilfeplanverfahrens nach § 36 SGB VIII n.F. durchgeführt wird.

In § 36 SGB VIII n.F. (Mitwirkung/Hilfeplan) heißt es nun:

(1) Der Personensorgeberechtigte und das Kind oder der Jugendliche sind vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe und vor einer notwendigen Änderung von Art und Umfang der Hilfe zu beraten und auf die möglichen Folgen für die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen hinzuweisen. Es ist sicherzustellen, dass Beratung und Aufklärung nach Satz 1 in einer für den Personensorgeberechtigten und das Kind oder den Jugendlichen verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form erfolgen.

Im neu eingefügten Absatz 5 außerdem:

(5) Soweit dies zur Feststellung des Bedarfs, der zu gewährenden Art der Hilfe oder der notwendigen Leistungen nach Inhalt, Umfang und Dauer erforderlich ist und dadurch der Hilfezweck nicht in Frage gestellt wird, sollen Eltern, die nicht personensorgeberechtigt sind, an der Aufstellung des Hilfeplans und seiner Überprüfung beteiligt werden; die Entscheidung, ob, wie und in welchem Umfang deren Beteiligung erfolgt, soll im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte unter Berücksichtigung der Willensäußerung und der Interessen des Kindes oder Jugendlichen sowie der Willensäußerung des Personensorgeberechtigten getroffen werden.

Das im Rahmen des Hilfeplanverfahrens eingesetzte Bedarfsermittlungsinstrument muss seit 2018, der zweiten Reformstufe des BTHG’s, ebenfalls den Anforderungen nach § 13 SGB IX n.F. genügen. Momentan wird in den einzelnen Bundesländern in unterschiedlicher Intensität an der Anpassung und praktischen Anwendung ICF/ICF-CY basierter Instrumente zur Bedarfsermittlung gearbeitet. Noch liegen keine systematisch aufgearbeiteten Erfahrungen zur Anwendung der ICF/ICF-CY in der kommunalen Praxis der Eingliederungshilfe und der Kinder- und Jugendhilfe vor. Im Kontext der Weiterentwicklung der Instrumente ist auf jeden Fall die Frage zu beantworten, wie insbesondere auch die umwelt- und einstellungsbezogenen Kontextfaktoren im Rahmen einer standardisierten Bedarfsermittlung angemessen berücksichtigt werden können.

In diesem Zusammenhang ist für das Jugendamt als zuständiger Rehabilitationsträger für Kinder und Jugendliche mit (drohender) seelischer Behinderung (§35 a SGB VIII) auch das Verhältnis zwischen erziehungsbedingten Bedarfen (meint: die erzieherische Situation als Umweltfaktor für das Kind) und behinderungsbedingten Bedarfen (meint: die Beeinträchtigung eines Menschen im Zusammenspiel mit weiteren einstellungs- und umweltbedingten Barrieren in seiner Lebenswelt) durch die Fachkräfte in den Blick zu nehmen (vgl. Schönecker 2018). Aufgrund der aktuellen Entwicklungsprozesse in den einzelnen Ländern im Bereich der Bedarfsermittlungsinstrumente und ihrer Anwendung in der Praxis, sind die aus einer ICF-CY basierten Bedarfsermittlung im Feld der Kinder- und Jugendhilfe resultierenden potenziellen Konsequenzen für Kinder, Jugendlichen und ihre Familien, die auf eine Bewilligung beantragter Leistungen warten, noch nicht recht absehbar. Die Bewilligung von Hilfen/Leistungen darf jedenfalls grundsätzlich nicht abhängig von der Einwilligung der Sorgeberechtigten zur Inanspruchnahme von erzieherischen Hilfen gemacht werden. Rechtlich als auch in der fachlichen Umsetzung ist demnach klarzustellen, dass eine körperliche, geistige oder seelische Beeinträchtigung zwar in Wechselbeziehung zum Erziehungsverhältnis zwischen Kind/Jugendlichem und Sorgeberechtigten steht und insofern Einfluss auf die Teilhabemöglichkeiten haben kann. Zugleich darf aber die Gewährung von Teilhabeleistungen nicht an die Inanspruchnahme von erzieherischen Hilfen gebunden werden, denn nicht nur bedürfen letztere aufgrund Art. 6 Abs. 2 GG grundsätzlich immer der freiwilligen Zustimmung durch die Sorgeberechtigten, sondern handelt es sich bei den Teilhabeleistungen auch um menschenrechtliche Hilfeansprüche des Kindes, die grundsätzlich bedingungslos zu gewähren sind.

Mit dem Begriff Bedarfsfeststellung ist demgegenüber allein die formale Konkretisierung eines bestehenden individuellen Bedarfs gemeint. Mit der Bedarfsfeststellung, zu verstehen als Verwaltungsakt, wird dem/der Antragsteller*in mitgeteilt, welche von den im Rahmen der Bedarfsermittlung erhobenen Bedarfe durch das Sozialleistungssystems anerkannt werden. Mit dem Leistungsbescheid als weiterem Verwaltungsakt wird formal die Bewilligung der in der Bedarfsfeststellung mitgeteilten Leistungen vollzogen.

Literaturangaben

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm hat in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) und in enger Kooperation mit sechs Jugendämtern ein onlinebasiertes Instrument zur Einschätzung von Teilhabebeeinträchtigungen nach § 35a SGB VIII entwickelt.

Siehe: Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm (Hrsg.) (2019) Broschüre Teilhabebeeinträchtigungen von Kindern und Jugendlichen mit (drohender) seelischer Behinderung erkennen. Rechtliche Anforderungen an die Einschätzung nach Änderungen durch das Bundesteilhabegesetz und Vorstellung eines darauf abgestimmten Instruments für die Jugendhilfe.

Orientierungshilfe zur Gesamtplanung §§ 117 ff. SGB IX / §§ 141 ff. SGB XII der BAGüS, Stand Februar 2018, 21 S.

unter: https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Schwerpunkte/Bundesteilhabegesetz/doc/02_2018an.pdf

Weiterführende Informationen

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm hat in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) und in enger Kooperation mit sechs Jugendämtern ein onlinebasiertes Instrument zur Einschätzung von Teilhabebeeinträchtigungen nach § 35a SGB VIII entwickelt.

Siehe: Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm (Hrsg.) (2019) Broschüre Teilhabebeeinträchtigungen von Kindern und Jugendlichen mit (drohender) seelischer Behinderung erkennen. Rechtliche Anforderungen an die Einschätzung nach Änderungen durch das Bundesteilhabegesetz und Vorstellung eines darauf abgestimmten Instruments für die Jugendhilfe.

Orientierungshilfe zur Gesamtplanung §§ 117 ff. SGB IX / §§ 141 ff. SGB XII der BAGüS, Stand Februar 2018, 21 S.

unter: https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Schwerpunkte/Bundesteilhabegesetz/doc/02_2018an.pdf

Eingliederungshilfe  ist eine Sozialleistung für Menschen mit Behinderung, die bislang im SGB XII verankert war. Mit dem BTHG wird diese „Fürsorgeleistung der Sozialhilfe“ schrittweise aus dem SGB XII herausgeführt und in das SGB IX als Teilhabeleistung integriert. Damit erfolgt innerhalb der Eingliederungshilfe eine Trennung von Fachleistungen für Menschen mit Behinderung und existenzsichernden Leistungen, wobei Letztere für alle anspruchsberechtigten Menschen weiterhin im SGB XII verankert bleiben. Ziel dieses Systemwechsels ist es, Menschen mit Behinderung mehr Selbstbestimmung in ihrer Lebensführung und mehr Möglichkeiten zur Teilhabe an allen Bereichen der Gesellschaft zu ermöglichen. Dazu ist die seit dem 01.01.2018 bestehende Option, einen Antrag auf Teilhabeleistungen nur noch bei einem einzigen  Rehabilitationsträger zu stellen, ein wichtiger Schritt. Die Rehabilitationsträger müssen innerhalb einer Frist von 14 Tagen prüfen, ob sie für die beantragten und darüber hinaus potenziell benötigten Leistungen zuständig sind und wenn nicht, den Antrag an den nach ihrem Ermessen zuständigen Rehabilitationsträger weiterleiten. Die Leistungen können demnach „wie aus einer Hand“ erbracht werden.
 

Personenzentrierte Eingliederungshilfe

Von personenzentrierter Eingliederungshilfe kann man sprechen, wenn die Teilhabeleistungen der Eingliederungshilfe orientiert am individuellen Bedarf und orientiert am Teilhabeziel einer Person erbracht werden. Die Bedarfsermittlung soll auf Basis der ICF erfolgen. Teilhabeziele werden im Rahmen der Teilhabe- bzw. Gesamtplanung zwischen anspruchsberechtigter Person, Rehabilitationsträger(n) vereinbart. Anspruchsberechtigte Personen können nun notwendige Teilhabeleistungen wie z.B. Assistenzen als Sachleistung in Anspruch nehmen oder im Rahmen des Persönlichen Budgets nach § 29 SGB IX selbst einkaufen. Allerdings soll das persönliche Budget die Höhe der Kosten aller individuell festgestellten/notwendigen Leistungen nicht übersteigen.

 

Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII

Seit dem 01.01.2018 (Reformphase 2 BTHG) ist das Jugendamt in seiner Funktion als Rehabilitationsträger für Kinder und Jugendliche mit einer (drohenden) seelischen Behinderung  (§ 35a SBG VIII oder § 41 in Verbindung mit § 35 a SGB VIII) ebenfalls den neuen Verfahrensrichtlinien und Grundsätzen aus dem BTHG unterworfen. Instrumente zur Bedarfsermittlung, Verfahrensabläufe und Kooperationsstrukturen zwischen Rehabilitationsträgern, Trägern der Eingliederungshilfe bzw. Professionellen im Gesundheitswesen, in der Behindertenhilfe und in der Kinder- und Jugendhilfe müssen neu entwickelt, systematisiert und tragfähig aufgebaut werden.

Mit dem am 10.06.2021 in Kraft getretenen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) haben sich grundsätzlich diesbezüglich keine Änderungen ergeben. Gleichwohl hat der Gesetzgeber an verschiedenen Stellen des reformierten SGB VIII auf die Verfahrensregeln aus dem SGB IX-neu verwiesen und klar gestellt, dass die Kooperation zwischen den Rehabilitationsträgern weiter ausgebaut werden muss. Damit sind wichtige Weichenstellungen für die vom Bund avisierte Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe ab 2028 vorgenommen worden.

Weiterführende Informationen

Hinweise zum BTHG und den mit ihm einhergehenden Veränderungen unter:

Gemeinsame Empfehlungen zum Reha-Prozess von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) (2019), 104 S.

Dahm, Sabine; Kestel, Oliver (2019): Auswirkungen des Bundesteilhabegesetztes (BTHG) auf das Verfahren bei Antrag gemäß § 35 a SGB VIII. In: ZKJ – Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe, 14 Jg., Nr. 5, S. 168-173.

Der Förder- und Behandlungsplan  ist das zentrale Fundament auf der die Zusammenarbeit der der beteiligten Fachdisziplinen in der Komplexleistung Frühförderung fußt. Ihm kommen die Aufgaben des Teilhabe- bzw./Gesamtplans zu. In der Komplexleistung Frühförderung müssen also nicht mehrere Pläne erstellt werden, vielmehr ist die Erstellung des Förder- und Behandlungsplans ein eigenständiges Leistungselement der Frühförderung nach § 7 FrühV. Das bedeutet, sofern ausschließlich heilpädagogische Leistungen zu erbringen sind, deckt sich der Förder- und Behandlungsplan mit dem Gesamtplan; sollten weitere Leistungen zur sozialen Teilhabe nach § 113 SGB IX in Betracht gezogen werden, werden diese ergänzend in den Plan, den der jeweilige Rehabilitationsträger beschließt, aufgenommen. (vgl. Diakonie Deutschland 2018, S. 7).

Literaturangaben

Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung – Bundesvereinigung e.V. (VIFF) (2018): Gesamtprozess der Frühförderung als Komplexleistung an Interdisziplinären Frühförderstellen. Handlungsempfehlungen zur Umsetzung zur Umsetzung BTHG/SGB IX/FrühV. 8 S.

Diakonie Deutschland 2018: Diakonische Eckpunkte zur Früherkennung und Frühförderung für Kinder mit Behinderung und von Behinderung bedrohte Kinder nach dem Bundesteilhabegesetz (BTHG). 15 S.

Unter: https://www.diakonie.de/fileadmin/user_upload/Diakonie/PDFs/Diakonie-Texte_PDF/03_2018_Fru__herkennung_Web.pdf  (zuletzt abgerufen 07.08. 2019)

Zur Arbeit mit der ICF_CY in der Frühförderung s.: https://www.fruehfoerderung-bayern.de/informations-und-arbeitspapiere/interdisziplinaeres-arbeiten-mit-der-icf-cy/

Der Begriff Gesamtplanung  beschreibt den gesamten Prozess der Bedarfsermittlung im Feld der Eingliederungshilfe. Die Gesamtplanung kann ein Teil der Teilhabeplanung sein. Das Teilhabeplanverfahren (§ 19 SGB IX) gilt für alle der in § 6 SGB IX genannten Rehabilitationsträger und ist von diesen zwingend zu beachten, auch von den Trägern der Eingliederungshilfe. Das Gesamtplanverfahren wird für die Leistungen der Eingliederungshilfe durchgeführt, wenn ausschließlich eine Leistungsgruppe nach § 5 SGB IX in Betracht kommt. Dann hat der Eingliederungshilfeträger, gemäß § 21 SGB IX ergänzend zu den Vorschriften des Teilhabeplanverfahrens, die Vorschriften für die Gesamtplanung (§ 117 ff. SGB IX) im zweiten Teil des SGB IX zu beachten. Es handelt sich um ein Verfahren, in dem beide Vorgaben der Teilhabeplanung und Gesamtplanung sich ergänzen und nicht ausschließen.

Die Gesamtplanung der Eingliederungshilfe beginnt – ebenso wie die Hilfeplanung in der Kinder- und Jugendhilfe – mit dem Bekanntwerden eines Bedarfs. Ab dem 01.01.2020, mit dem Einsetzen der dritten Reformstufe des BTHG, reicht dafür allerdings nicht mehr die mündliche Form aus; stattdessen muss ein schriftlicher Antrag gestellt werden.

Das Gesamtplanverfahren  muss immer dann durchgeführt werden, wenn Leistungen aus der Eingliederungshilfe in Betracht gezogen werden. Im Gegensatz zum Teilhabeplanverfahren ist das Gesamtplanverfahren also auch dann durchzuführen, wenn keine weiteren Rehabilitationsträger beteiligt sind oder nur Leistungen aus einer Leistungsgruppe (z.B. nur Teilhabe an Bildung) beantragt werden. Ist die Durchführung eines Teilhabeplanverfahrens notwendig, ist das Gesamtplanverfahren Gegenstand des Teilhabeplanverfahrens. Im Rahmen der Teilhabeplanung gelten die Regeln für die Gesamtplanung dann ergänzend. Im Zentrum des Gesamtplanverfahrens steht die Ermittlung, Feststellung und Sicherstellung der in Frage kommenden Leistungen. Es dient der Steuerung, Planung, Dokumentation und Wirkungskontrolle von Leistungen aus der Eingliederungshilfe (vgl. § 121 Abs. 2 SGB IX). Insofern nimmt die Bedarfsermittlung (s. Glossar Bedarfsermittlung, ICF) im Rahmen des Gesamtplanverfahrens eine ganz bedeutende Position ein; sie ist die wesentliche Voraussetzung, um die Planung und Koordination der Leistungen möglichst bedarfsgerecht durchführen zu können.

Verantwortlich für die Durchführung ist der jeweilige Träger der Eingliederungshilfe, der auch für die Leistung zuständig ist. Nach den ab 01.01.2020 für alle Eingliederungshilfeträger geltenden Verfahrensvorschriften für das Gesamtplanverfahren, sind die Beteiligung der leistungsberechtigten Person an allen Verfahrensschritten des Gesamtplanverfahrens sowie die Dokumentation ihrer Wünsche zu den Zielen und Art der Umsetzung von Teilhabeleistungen obligatorisch (vgl. § 117 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX n.F). Mit dem Erlass des Bewilligungsbescheids durch den Eingliederungshilfeträger (=Verwaltungsakt) endet das Gesamtplanverfahren vorläufig – solange bis der erstellte Gesamtplan einer Überprüfung bzw. Fortschreibung bedarf oder neue Bedarfe bekannt werden.

Neue Anforderungen an die Jugendämter durch das Inkrafttreten des neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes

Durch das Inkrafttreten des neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes am 10.06.2021 stehen die Jugendämter in ihrer Funktion als öffentlicher Träger von Kinder- und Jugendhilfeleistungen nunmehr in der Pflicht, in beratender Funktion am Gesamtplanverfahren teilzunehmen. Folgende Regelungen gelten nun:

§ 10a Abs. 3 SGB VIII n.F.: Bei minderjährigen Leistungsberechtigten nach § 99 SGB IX nimmt der Träger der öffentlichen Jugendhilfe mit Zustimmung des Personensorgeberechtigten am Gesamtplanverfahren nach § 117 Abs. 6 SGB IX beratend teil.

§ 117 Abs. 6 SGB IX n.F.: Bei minderjährigen Leistungsberechtigten wird der nach § 86 SGB VIII zuständige örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe vom Träger der Eingliederungshilfe mit Zustimmung des Personensorgeberechtigten informiert und nimmt am Gesamtplanverfahren beratend teil, soweit dies zur Feststellung der Leistungen der Eingliederungshilfe nach den Kap. 3 bis 6 erforderlich ist. Hiervon kann in begründeten Ausnahmefällen abgesehen werden, insbesondere wenn durch die Teilnahme des zuständigen örtlichen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe das Gesamtplanverfahren verzögert würde.

§ 119 Abs. 1 SGB IX n.F.: ... ²Die Leistungsberechtigten, die beteiligten Rehabilitationsträger und bei minderjährigen Leistungsberechtigten der nach § 86 SGB VIII zuständige örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe, können dem [...] Träger der Eingliederungshilfe die Durchführung einer Gesamtplankonferenz vorschlagen.

Begründung RegE zu § 117 Abs. 6 SGB IX n.F., S. 137: Mit der Regelung wird funktionell sichergestellt, dass bis zur schrittweisen Zusammenführung der Zuständigkeiten [...] im Jahr 2028 bzw. der Einführung der [...] „Verfahrenslotsen“ beim Jugendamt im Jahr2024 die spezifischen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen, die sich in vielfältiger Hinsicht grundsätzlich von den Bedarfen Erwachsener unterscheiden, im Hinblick auf die Leistungsgewährung der Eingliederungshilfe [...] zum Tragen kommen. Dabei geht es insbesondere um die Berücksichtigung der Spezifika der Lebensphase „Kindheit und Jugend“, in der die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung und die Erziehung für die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft von zentraler Bedeutung sind und insbesondere auch das Beziehungsgefüge der Familie insgesamt, vor allem zwischen dem Kind [...] und seinen Eltern, als System besondere Beachtung finden muss. Die Beteiligung des Jugendamts im Gesamtplanverfahren kann auch der Abstimmung und gemeinsamen Klärung bei einer im Einzelfall schwierigen Abgrenzung zwischen erzieherischen und behinderungsbedingten Bedarfen dienen. Die beratende Mitwirkung [...] bezieht sich nicht auf das Jugendamt in seiner Funktion als Rehabilitationsträger. Es hat vielmehr seine Expertise in Wahrnehmung seines [§ 1 SGB VIII-] Auftrags [...] in die Gesamtplanung einzubringen, um zur Bedarfsgerechtigkeit der nach dem SGB IX dem betreffenden Kind [...] zu gewährenden Leistungen der Eingliederungshilfe beizutragen.

Zusammenfassend ergibt sich also die Aufgabe einer regelhaften Teilnahme des Jugendamts am Gesamtplanverfahren unter folgenden Bedingungen (vgl. hierzu den Vortrag von Schönecker, Lydia (2021), Folie 5 zur  9. Plattform für öffentlichen Erfahrungsaustausch des Dialogforums, unter: https://jugendhilfe-inklusiv.de/sites/default/files/difu_gesamtplanung_16.3.21.pdf):

(§10a Abs. 3 SGB VIII-E, §117 Abs. 6, §119 Abs. 1 SGB IX-E)

  • mit Zustimmung der Personensorgeberechtigten informiert der Träger der Eingliederungshilfe das Jugendamt
  • beratende Teilnahme des Jugendamts, soweit dies zur Feststellung der Eingliederungshilfeleistungen erforderlich ist
  • Vorschlagsrecht des JAmts für Gesamtplankonferenz (§119 Abs. 1)
  • Ausnahme: Teilnahme verzögert das Verfahren

Hieraus ergeben sich mindestens folgende Fragen für die Arbeit der Jugendämter, die jetzt nach Klärung drängen (vgl. dazu Schönecker 2021, Folie 7-8):

Zeitpunkt: An welcher konkreten Stelle im Verfahren? (Gesamtplankonferenz = „Beratung auf der Grundlage der Ergebnisse der Bedarfsermittlung“) – wie lässt sich die Aufgabe zeitlich realistisch in das beschleunigte Verfahren einpassen?

Aufgaben und Rolle: Wie kommt das Jugendamt mit Kind und Familie in Kontakt, v.a. wenn keine Gesamtplankonferenz stattfindet (= eigener Beratungsprozess?). Wie gelingt Vertrauensherstellung? Wer führt die Aufgabe aus? (ASD oder §35a-Spezialdienst?)

Kompetenzen: Welche Expertise und Kompetenzen werden im Umgang mit behinderungs-bedingten Einschränkungen und Bedarfen gebraucht? (z.B. Kommunikation in leichter Sprache)? Braucht es neue sozialpädagogische Perspektiven im Kontext von Familien mit Kindern mit (schweren) körperlichen und/oder geistigen Behinderungen?

Abstimmungsbedarfe: Wie werden ggf. weitergehende Jugendhilfeleistungen verbindlich im Planungsprozess aufgenommen und mit dem eigenen Verfahren abgestimmt? Ist es sinnvoll, mit den Trägern der Eingliederungshilfe fallübergreifende Absprachen für diese Zusammenarbeit zu treffen?

Der Gesamtplan  ist das Dokument, in dem die Ergebnisse nach der Bedarfsermittlung und Bedarfsfeststellung festgehalten werden. Neben den konkreten festgestellten Bedarfen werden in ihm auch die eingesetzten Verfahren und Instrumente sowie Maßstäbe zur Wirkungskontrolle festgehalten. Daneben enthält er geplante bzw. durchgeführte Maßnahmen sowie vereinbarte Ziele. Wesentlich ist, dass gerade bei unterschiedlichen Vorstellungen zwischen Leistungsträger, Leistungserbringer und Leistungsberechtigten bezüglich gewünschter Unterstützungsleistungen oder Teilhabeziele bestehen, auch gerade diese festgehalten werden. So dient der Gesamtplan als zentrales Steuerungsinstrument innerhalb der Gesamtplanung; er schafft Transparenz für alle am Prozess beteiligten Akteure. Damit ist auch gesagt, dass der Träger der Eingliederungshilfe verpflichtet ist, den Gesamtplan der leistungsberechtigten Person zur Verfügung zu stellen; so soll der Anspruch an Partizipation/Beteiligung der leistungsberechtigten Person sicher gestellt sein.

Der Gesamtplan dient insofern auch als Grundlage für die Bewilligung bzw. Weitergewährung von Leistungen; er ist spätestens nach zwei Jahren zu überprüfen bzw. fortzuschreiben.

Die Gesamtplankonferenz  kann – ebenso wie die Teilhabeplankonferenz – durchgeführt werden, sie muss aber nicht durchgeführt werden. Ebenso wie bei der Teilhabeplankonferenz ist die Gesamtplankonferenz nur dann zwingend durchzuführen, wenn Eltern mit Beeinträchtigungen Leistungen für ihre Kinder beantragen. Sie bedarf, auch gleichklängig zur Teilhabeplankonferenz, immer der Einwilligung der leistungsberechtigten Person.

Die Gesamtplankonferenz soll der Aufklärung und Vernetzung der beteiligten Akteure dienen, sie kann auch als Ergänzung zur Bedarfsermittlung durchgeführt werden, wenn trotz umfassender Gespräche zur Bedarfsermittlung unterschiedliche Auffassungen zum im Gesamtplan dokumentierten festgestellten Bedarf vorherrschen. Bei komplexen Bedarfslagen oder Fallkonstellationen können Gesamtplankonferenzen hilfreich sein, um bedarfsgerechte Unterstützung zu leisten. Sinn und Zweck ist immer die Sicherstellung von Leistungen und zwar orientiert an den Teilhabezielen der leistungsberechtigten Person. Beteiligt sein können neben dem Eingliederungshilfeträger weitere Leistungsträger (Bundesagentur für Arbeit, Pflegekasse etc.), die leistungsberechtigte Person sowie ihre Vertrauensperson, ggf. ein gesetzlicher Vertreter, ein Beistand oder auch weitere Personen, die mit den Kindern von Eltern mit Beeinträchtigungen zu tun haben, wie etwa Lehrer, betreuende Fachkräfte, Therapeuten etc.

Literaturangaben

Schönecker, Lydia (März 2021): Sofortiges Inkrafttreten des Gesetzes = sofortige Gesamtplanung! Vortrag zur 9. Plattform für öffentlichen Erfahrungsaustausch des Dialogforums „Bund trifft kommunale Praxis“

Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gesamtplanung in der Eingliederungshilfe und ihr Verhältnis zur Teilhabeplanung, verabschiedet am 18.6. 2019, 21 S. Quelle: https://www.deutscher-verein.de/de/empfehlungenstellungnahmen-2019-empfehlungen-des-deutschen-vereins-zur-gesamtplanung-in-der-eingliederungshilfe-und-ihr-verhaeltnis-zur-teilhabeplanung-3564,1672,1000.html

Orientierungshilfe zur Gesamtplanung §§ 117 ff. SGB IX / §§ 141 ff. SGB XII der BAGüS, Stand Februar 2018, 21 S. Quelle: https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Schwerpunkte/Bundesteilhabegesetz/doc/02_2018an.pdf

Dokumentation der Ergebnisse des 6. Expertengesprächs „Entscheidungen im Dialog. Beteiligungsverfahren in der gemeinsamen Ausgestaltung von Leistungen für Kinder, Jugendliche und Familien“ am 28. und 29. Juni 2018 in Berlin.

Die Begriffe Hilfe  und  Leistung   können, originär verstanden, den gleichen funktionalen Sachverhalt bezeichnen, nämlich eine staatlich finanzierte Sozialleistung zur Unterstützung einer Person in ihrem Lebensalltag (z.B. Schulbegleitung, Assistenzen, Beratung etc.). In den Systemen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendhilfe steht jedoch jeweils ein unterschiedliches Verständnis hinter diesen Begriffen. Das liegt in der historisch differenten Genese der beiden Hilfesysteme und der damit in Zusammenhang stehenden Haltung der Leistungserbringer*innen gegenüber ihren Leistungsempfänger*innen begründet.

In der Kinder- und Jugendhilfe hat der Begriff Hilfe Tradition. Die Kinder- und Jugendhilfe und hier im Besonderen die Hilfen zur Erziehung (HzE) zielen darauf ab, Eltern dabei zu unterstützen, ihre Aufgaben zur Erziehung und Entwicklung ihrer Kinder zu gemeinschaftsfähigen und autonomen Subjekten bestmöglich wahrzunehmen. Fachlich baut die Hilfeplanung in der Kinder- und Jugendhilfe entsprechend dem professionellen Selbstverständnis Sozialer Arbeit auf dem Prinzip der Lebensweltorientierung, d.h. auf einer systemischen Perspektive, auf. Die Inanspruchnahme einer durch das Jugendamt finanzierten Unterstützung aus den HzE setzt voraus, dass die Eltern ihre Hilfebedürftigkeit anerkennen. Erst nach Einwilligung der Eltern ist das Jugendamt berechtigt, in das Familiensystem mit den jeweils als angemessen betrachteten Hilfen einzugreifen. Die Einsicht in eine Hilfebedürftigkeit ist aber nicht selten schambehaftet, der Wunsch nach einer von staatlicher Einflussnahme befreiten Aufrechterhaltung der Autonomie des Familiensystems groß; daneben sind nicht alle Anspruchsberechtigten hinreichend über die gesetzlich normierten Ansprüche informiert. Daraus ergibt sich für die Mitarbeiter*innen im Jugendamt (ASD/RSD) die Daueraufgabe, bei den Familien um die Inanspruchnahme der Hilfen zu werben. Aufbau und Fortführung des Arbeitsbündnisses zwischen der Fachkraft des öffentlichen Jugendhilfeträgers und der Familie stehen im Spannungsverhältnis von Hilfe und Kontrolle. Das konstitutive Strukturproblem sozialer Arbeit kommt im Arbeitsfeld der HzE besonders deutlich zum Ausdruck.

In der Behindertenhilfe hat sich hingegen der Begriff Leistung  etabliert. Hier dominiert fachlich das Prinzip der Personenzentrierung und eine selbstbewusste Grundhaltung auf Seiten der Leistungsberechtigten bzw. ihrer Vertreter*innen: Der Staat ist dafür zuständig, einen signifikanten Beitrag zur Überwindung von Teilhabebeeinträchtigungen für Menschen mit Behinderungen zu leisten. Während in der Kinder- und Jugendhilfe (KJH) die Sorge der Familie vor einem Autonomieverlust aufgrund staatlicher Einflussnahme handlungsleitend für die Arbeit sein kann, steht in der Behindertenhilfe die Durchsetzung des Rechts auf großmöglichste Autonomie bei der Teilhabe an der Gesellschaft im Vordergrund. Dennoch hatten sich die Vertreter*innen der Fachverbände der Behindertenhilfe im Kontext der Debatten um ein inklusives SGB VIII inzwischen deutlich dafür ausgesprochen, von dem Begriff der Leistung abzusehen und sich dem Hilfeverständnis der KJH anzuschließen (vgl. Dokumentation 2. Expertengespräch 2017, S. 44). Stellen wir in Rechnung, dass der Hilfebegriff im Alltagsverständnis immer ein asymmetrisches Beziehungsverhältnis zwischen Hilfegeber*in und Hilfeempfänger*in impliziert und berücksichtigen wir die Entwicklungsgeschichte der Behindertenhilfe, die, nicht nur in Deutschland, durch ein jahrzehntelanges Ringen um die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung geprägt ist, wird das beachtliche Ausmaß dieses Zugeständnisses deutlich. Dieser Schritt mag der Behindertenhilfe durch die Konjunktur der sozialpolitischen Bedeutung des Teilhabebegriffs erleichtert worden sein. Als sozialpolitisches Konzept wird Teilhabe mittlerweile im Sinne von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung verstanden und findet sich in eben dieser Bedeutung auch rechtlich normiert im BTHG wieder. So verstanden, löst das sozialpolitische Konzept der Teilhabe die von Selbsthilfeverbänden/von der Behindertenhilfe seit vielen Jahrzehnten kritisierten Konzepte der Fürsorge und Versorgung von Menschen mit Beeinträchtigungen endgültig ab.

Umgekehrt haben sich Vertreter*innen beider Systeme aber auch für eine Übernahme des Leistungsbegriffs in das System der Kinder- und Jugendhilfe ausgesprochen. Zentraler Bezugspunkt in dem Zusammenhang war das pragmatische Argument, dass Leistungen aus Sozialgesetzbüchern abgeleitet werden und insofern eine Ausweitung des Leistungsbegriffs auf alle Sozialleistungssysteme eine naheliegende Lösung für das in Rede stehende Verständigungsproblem und damit letztlich für das weitere Zusammenwachsen der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe sein könnte (vgl. Dokumentation 2. Expertengespräch 2017, S. 57).

Der Unterschied zwischen dem systemischen Blick der Jugendhilfe und dem personenzentrierten Blick der Eingliederungshilfe wird zwischen Jugend- und Behindertenhilfe immer wieder thematisiert. Auf der Ebene der kommunalen Praxis sollten sich beide Perspektiven derart ergänzen, dass die Personenzentrierung den Ausgangspunkt bildet und dann in die systemische Betrachtung und den Einbezug des Umfeldes übergeht. Dazu könnten ICF-basierte Instrumente zur Bedarfsermittlung möglicherweise einen die bisherige Perspektive des jeweiligen Hilfesystems erweiternden Beitrag leisten (s. Glossar ICF).

Mit Blick auf die Zukunft einer inklusiven Kinder- Jugendhilfe lässt sich die Frage aufwerfen, inwiefern mit einem veränderten Begriffsverständnis – von Leistung zu Hilfe oder von Hilfe zu Leistung – auch Prozesse eines veränderten professionellen Selbstverständnisses in den beiden (hoffentlich weiter zusammenwachsenden) Hilfe-/Verwaltungssystemen respektive ihren originären Bezugsdisziplinen (Soziale Arbeit, Sonderpädagogik, Heilpädagogik, Rehabilitationspädagogik, Verwaltungswissenschaften) einhergehen werden und welche Bedeutung das für die kommunale Praxis haben kann.

Literaturangaben

Dokumentation der Ergebnisse des 2. Expertengesprächs „Zusammenführung der Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfen im SGB VIII. Eine fachlich-inhaltliche Positionierung“ am 26. und 27. Oktober 2017 in Berlin.

Hilfeplanung  ist als Oberbegriff für die in § 36 SGB VIII festgehaltenen Elemente des Hilfeprozesses zu verstehen. Der Begriff beschreibt den Gesamtprozess von der Beratung über die Bedarfsermittlung bis hin zur Aufstellung (ggf. Fortschreibung) des Hilfeplans bzw. bis hin zur Beendigung einer Hilfe. Eine qualitätsvolle Hilfeplanung ist die grundlegende Voraussetzung für das Gelingen der Hilfen gemäß §§ 27 ff. SGB VIII, § 35a SGB VIII und § 41 SGB VIII im Einzelfall.

 

Hilfeplanverfahren  meint die konkrete methodische Umsetzung des Hilfeplanungsprozesses im Jugendamt. Die Jugendämter legen intern fest, wann von wem welche Aktivitäten zu erbringen sind. Beteiligte in einem Hilfeplanverfahren sind:

  • Sorgeberechtigte, beispielsweise die Eltern,
  • das betroffene Kind,
  • mindestens ein Vertreter des Jugendamtes,
  • Pflegeeltern,
  • Fachkräfte von Trägern, die Hilfen erbringen,
  • Weitere Fachkräfte (Arzt, Psychologen s. § 35a Abs. 1a SGB VIII),
  • Unter Umständen die nicht-personenberechtigten Eltern des Kindes/Jugendlichen (vgl. § 36 Abs. 5 SGB VIII-neu).

 

Mit Hilfeplan  ist das zentrale fachliche Steuerungsinstrument für einzelfallbezogene Hilfen in der Kinder- und Jugendhilfe bezeichnet. Er ist in § 36 SGB VIII rechtlich normiert. Als verschriftlichtes Dokument enthält er alle wichtigen Informationen zu einem (laufenden) Hilfeprozess. Der Hilfeplan ist kein Verwaltungsakt, sondern dient der Steuerung des Prozesses und der Koordination der beteiligten Akteure im Verlauf des Hilfeprozesses. Inhaltlich erstellt bzw. fortgeschrieben wird er seitens des Jugendamtes in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten im Rahmen des Hilfeplanverfahrens auf der Hilfeplankonferenz, der Zusammenkunft, auf der alle Beteiligte sich über den Verlauf des Hilfeprozesses verständigen.

 

Wesentliche Aspekte:

Für eine gelingende Hilfeplanung, d.h. gelingend im Sinne der Förderung einer bestmöglichen Entwicklung des jungen Menschen und seiner Familie, ist die umfassende Beratung und Beteiligung des jungen Menschen, der Personenberechtigten und ggfs. auch der Herkunftseltern über Art, Gestalt und mögliche Folgen von Hilfen für die weitere Entwicklung des jungen Menschen bzw. des Familiensystems von herausragender Bedeutung. Das hat der Gesetzgeber mit Neuregelungen an verschiedenen Stellen im KJSG auch rechtlich klargestellt (s. hierzu insbesondere die §§ 8, 10 a, 10 b, 36, 36 a, 36 b, 37, 37 a, 37 b und 37 c SGB  VIII  n. F.). Installierte Hilfen können nur dann ihre volle Wirkkraft entfalten, wenn sie gemeinsam mit den Betroffenen orientiert an den gewünschten Zielen der Hilfen ausgewählt und in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit den Leistungserbringern umgesetzt werden.

Darüber hinaus müssen alle am Hilfeprozess beteiligten Akteure über ein klares Verständnis über ihre Rolle, Funktion und Aufgaben verfügen. Dann kann eine gute Kooperation zwischen allen Beteiligten gelingen, selbst wenn es im Verlauf des Hilfeprozesses zu Konflikten oder Krisen kommt.

Außerdem steht durch das Inkrafttreten des BTHG die Frage im Raum, in welchem Verhältnis der Teilhabeplan (SGB IX) zum Hilfeplan (SGB VIII) steht und was bei der Durchführung der beiden Verfahren neu oder anders zu beachten ist.  Dazu ist folgendes festzuhalten:

  • Treffen ein Bedarf an Rehabilitationsleistungen der Kinder- und Jugendhilfe mit einem Bedarf an Leistungen anderer Rehabilitationsträger zusammen oder besteht ein Bedarf aus mehreren Leistungsgruppen und der Jugendhilfeträger ist leistender Rehabilitationsträger, hat er einen Teilhabeplan zu erstellen. Dabei sind die Regelungen des § 19 SGB IX zu berücksichtigen.
  • Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter hat die Frage nach der Durchführung und dem Verhältnis von Hilfeplanverfahren zu Teilhabeplanverfahren in der 2019 veröffentlichten Arbeitshilfe zu den Anforderungen an die Jugendämter durch das BTHG unter Punkt 7 sehr ausführlich aufgegriffen. Sofern das Jugendamt für die Durchführung des Teilhabeplanverfahrens verantwortlicher Rehabilitationsträger ist, gelten die Vorschriften für den Hilfeplan (§ 36 SGB VIII) ergänzend.
  • Besonders zu beachten ist der Sozialdatenschutz, da Daten, die im Hilfeplanverfahren erhoben werden, jedoch für das Teilhabeplanverfahren keine Relevanz haben (etwa: Erziehungskompetenz der Eltern), nicht an andere Rehabilitationsträger weitergegeben werden dürfen. Die Verantwortung für die Wahrung des Sozialdatenschutzes liegt beim leistenden Rehabilitationsträger, d.h. bei dem Rehabilitationsträger, der das Teilhabeplanverfahren verantwortlich zu steuern hat. (vgl. BAGLAjae 2019, S. 20 ff)
  • Unter den Begriffen Instrument und ICF haben wir auf das Verhältnis standardisierter Bedarfsermittlung gegenüber einer sozialpädagogischen Diagnostik, wie sie im fachlichen Selbstverständnis der Kinder- und Jugendhilfe verankert ist, verwiesen
  • Mit einer Orientierung der Hilfeplanung an den Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter „Qualitätsmaßstäbe und Gelingensfaktoren für die Hilfeplanung gem. § 36 SGB VIII“ werden die Anforderungen des § 13 SGB IX n. F. an die Instrumente erfüllt.
  • Kenntnisse über das Leistungsspektrum anderer Rehabilitationsträger und die Kooperation mit ihnen, ermöglichen das Erkennen eines über die eigene Zuständigkeit hinausgehenden Bedarfs und sind Voraussetzung für ein sachgerechtes Hinwirken auf eine entsprechende Antragsstellung. Im neuen KJSG hat der Gesetzgeber in §§ 10 a und 10 b SGB VIII n.F. einen Anspruch auf Beratung – auch zu Leistungen weiterer Leistungsträger – rechtlich hinterlegt!
  • In § 10 b SGB VIII n.F. ist der örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe außerdem explizit aufgefordert ab dem Jahr 2024 einen Verfahrenslotsen vorzuhalten, der die Leistungsberechtigten sowie ihre Mütter, Väter, Personen- und Erziehungsberechtigte bei der Verwirklichung von Ansprüchen auf Leistungen der Eingliederungshilfe unabhängig unterstützt sowie auf die Inanspruchnahme von Rechten hinwirkt.

Literaturangaben

Eschweiler, Sandra; Weber, Monika (2016): Hilfeplanung gemäß § 36 SGB VIII. Veröffentlicht am 28.07.2016 unter: https://www.sgbviii.de/files/SGB%20VIII/PDF/S179.pdf

Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter: Anforderungen an die Jugendämter durch das Bundesteilhabegesetz (2019). 33 S. unter: http://www.bagljae.de/content/empfehlungen/ , Nr. 140.

Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter: Qualitätsmaßstäbe und Gelingensfaktoren für die Hilfeplanung gem. § 36 SGB VIII (2015). 116S. unter: http://www.bagljae.de/downloads/123_hifelplanung-gem.-36-sgb-viii_2015.pdf

Weiterführende Informationen

Martin Wazlawik, Martin; Koch, Matthias: Multiprofessionelle Hilfeplanung - Herausforderungen und Perspektiven für eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe.  In: Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis (KJug), Berlin: Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz; 63 (2018); Nr. 4, S. 148-151.

Mit ICF  wird die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet.

Sie bildet die zentrale Grundlage für die durch das BTHG reformierte Bedarfsermittlung und den im BTHG neu definierten Behinderungsbegriff nach dem bio-psycho-sozialen Modell von Behinderung: „Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“ (§ 2 Abs. 1 SGB IX).

Die ICF ist eine Klassifikation, die verschiedene Ebenen einbezieht, um eine Behinderung möglichst genau in ihren Auswirkungen für die Person in ihrer Lebenswirklichkeit beschreiben zu können. Sie dient einer sachgerechten Beschreibung von Beeinträchtigungen und Teilhabebarrieren. Ziel ist, auf der Grundlage einer an der ICF orientierten Bedarfsermittlung und der daran schließenden Auswahl geeigneter Teilhabeleistungen, eine Verbesserung der Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu ermöglichen.

Die Kategorien der ICF sind neutral gefasst, um einer systematischen Etikettierung von Menschen entgegenzuwirken sowie Stigmatisierungen oder unangemessene Konnotationen zu vermeiden. Zudem besteht die ethische Selbstverpflichtung der Autoren der ICF, die ICF nicht als Instrument zur Regulierung des Leistungszugangs einsetzen zu wollen. Bedeutsam ist, dass die ICF nicht als Diagnose – oder Assessmentinstrument verstanden werden kann. Disziplinenspezifische Verfahren zur Informationsgewinnung (Gutachten etc.) sind nach wie vor notwendig.

In der ICF beziehen sich Umweltfaktoren auf die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt, in der Menschen leben.

Sie umfassen:

  • Produkte und Technologien (z.B. Lebensmittel, Medikamente, Hilfsmittel, Vermögenswerte);
  • natürliche und von Menschen veränderte Umwelt (z.B. demografischer Wandel, Pflanzen, Tiere, Klima, Geräusche, Luftqualität);
  • Unterstützung und Beziehungen (Familie, Freunde, Vorgesetzte);
  • Einstellungen (z.B. individuelle von Familie, Freunden, gesellschaftliche Einstellungen);
  • Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze (z.B. Wohnungs-, Versorgungs-, Transport- und Gesundheitswesen, der Wirtschaft, Rechtspflege, Politik).

Zur Zeit werden in den Bundesländern entsprechende ICF-orientierte Instrumente zur Bedarfsermittlung erarbeitet.

Im Rahmen der fachlichen Diskussionen zur ICF-orientierten Bedarfsermittlung im Zuge des Gesamtplanverfahrens hat sich bspw. der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. explizit für die Durchführung mittels eines strukturierten und standardisierten Gesprächsleitfadens, dem das bio-psycho-soziale Modell von Behinderung zu Grunde liegt, ausgesprochen (vgl. ebd. 2019, S. 19). Wesentlich für eine umfassende, sachgerechte und an der ICF orientierten Bedarfsermittlung ist das dialogische Gespräch zwischen Leistungsberechtigtem (oder ggf. einem/einer von ihm/ihr gewählten Vertreter*in) und Leistungsträger, das barrierefrei, in einem geschützten Rahmen und explizit die Wünsche des Leistungsberechtigten berücksichtigend erfolgen soll.

In Hamburg etwa steht ein sog. Gesamtplangespräch zur Bedarfsermittlung, das sich an den Inhalten der ICF orientiert, schon seit langem als regulärer Verfahrensteil im Mittelpunkt der Gesamtplanung. Es dient im Sinne einer partizipativen Bedarfsermittlung der Eruierung von Ressourcen, Unterstützungsbedarfen und Zielen und wird selbstverständlich immer gemeinsam mit dem Leistungsberechtigten geführt (vgl. Dok. 6. Expertengespräch S. 33-37). Entwickelt wurde ein sog. Gesamtplanformular, das sich in neun Lebensbereiche unterteilt und angelehnt an die ICF folgende Bereiche abdeckt: 

  • Wohnen,
  • Alltägliche Lebensführung,
  • Basisversorgung,
  • Emotionale und psychische Situation,
  • Gesundheitsförderung,
  • Soziale Beziehungen,
  • Kommunikation u. Orientierung,
  • Kulturelles und gesellschaftliches Leben,
  • Lernen/Ausbildung/Arbeit.

Ausführlich zur Durchführung und zum Ablauf der Gesamtplanung in Hamburg, orientiert an den neuen Richtlinien aus dem BTHG vgl. die  Dokumentation des 6. Expertengespräches „Entscheidungen im Dialog. Beteiligungsverfahren in der gemeinsamen Ausgestaltung von Leistungen für Kinder, Jugendliche und Familien“ am 28. und 29. Juni 2018 in Berlin, S. 33-40.

Die ICF-CY  ist demgegenüber 2007 abgeleitet aus der ICF entwickelt worden, um den Besonderheiten von Kindern und Jugendlichen während ihrer Entwicklung und dem Einfluss der Umwelt auf ihre Entwicklung gerecht werden zu können. Dazu wurden in der ICF-CY spezifische Items ergänzt. In der ICF-CY kann etwa der Einbezug des engsten Familienkreises als Einflussfaktor durch zwei Items dargestellt werden: e310 engster Familienkreis und e410 Einstellungen der Mitglieder des engsten Familienkreises. Diese können anhand von Codes beurteilt werden.

An dieser Stelle wird – im Gegensatz zur Arbeit in der Eingliederungshilfe – bereits eine besondere Herausforderung für die Arbeit der Jugendämter in ihrer Doppel-Funktion als Rehabilitationsträger und als Träger der Kinder- und Jugendhilfe deutlich: Im Rahmen der Hilfen zur Erziehung, bei denen die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Eltern/Sorgeberechtigten die wesentlichste Voraussetzung für eine Verbesserung der Lebenssituation der Kinder und ihrer Familien ist, stellt sich die Frage, inwiefern eine Item-basierte und codierte Feststellung der Beziehungsqualität mit Blick auf die Hilfeplanung zielführend eingesetzt werden kann. Wenn sie genutzt wird, bedarf es unbedingt einer vertrauensvollen und professionell durchgeführten Kommunikation zwischen Leistungsträger (hier Jugendamt), Leistungsberechtigtem (Kind oder Jugendlicher, ggf. vertreten durch Eltern/Sorgeberechtigten und die Eltern selbst) und Leistungserbringern. Die Herausforderung für die Jugendhilfeträger besteht also darin, die ICF-CY mit der eigenen Bedarfsermittlung (i.d.R. sozialpädagogische Diagnostik) zu verbinden, daraus Leistungen zu beschreiben und diese am Ende auch mit einem Entgelt zu versehen.

Die ICF-CY ist (ebenso wie die ICF) kein Instrument, um eine stationäre Hilfe einzuleiten, sondern bildet nur die Grundlage, um Menschen und/oder deren Lebenssituationen zu beschreiben. Das bedeutet eine außerordentliche Herausforderung für die personellen, fachlichen und strukturellen Ressourcen. (vgl. Dok. 7. Expertengespräch). Wesentlich zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass es bei der ICF-CY oder ICF orientierten Bedarfsermittlung und –feststellung nicht allein um eine Sammlung von Informationen geht, sondern die verschiedenen Faktoren zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen und schließlich mit Blick auf die leistungsberechtigte Person und ihre Lebenswelt entsprechend der erarbeiteten Teilhabeziele interpretiert werden.

Aktuell noch ungünstig für die Praxis in den Jugendämtern ist, dass – entgegen den Regelungen im BTHG – der Behinderungsbegriff in § 35 a SGB VIII noch nicht an das bio-psycho-soziale Modell von Behinderung angepasst worden ist. Dort heißt es aktuell noch: „Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn 1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und 2. daher ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Daraus ergibt sich, dass im SGB VIII die Wechselwirkung zwischen funktionalen und umwelt- bzw. kontextbezogenen Faktoren mit Blick auf Behinderung noch nicht explizit berücksichtigt ist.

Die Fachverbände des Deutschen Caritasverbandes sprechen sich aktuell (Juli 2019) sowohl mit Blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention als auch aus rechtssystematischen Erwägungen für die Anpassung des Behinderungsbegriffs im SGB VIII an die Definition im BTHG aus; bei Ausbleiben der Angleichung befürchten sie eine Schwächung der Rechte Betroffener (vgl. Fachverbände des Deutschen Caritasverbandes „Inklusive Lösung im SGB VIII“, Juli 2019, S. 3).

Welche Konsequenzen sich für Kinder, Jugendliche und ihre Familien aus der derzeit noch ungeklärten Rechtslage zukünftig tatsächlich ergeben, ist momentan noch nicht absehbar. Die Fragen zu einer sach- und fachgerechten Differenzierung zwischen erziehungsbedingten und behinderungsbedingten Bedarfen sowie ihre Ermittlung und die daran anknüpfende Leistungsgewährung sind dringend sowohl fachlich als auch durch den Gesetzgeber zu klären, um einer Schwächung der Rechte von Kindern und Jugendlichen nach § 35 a SGB VIII entgegen zu treten. (s. auch Glossar Bedarf und Anspruchsinhaberschaft).

Literaturangaben

Dokumentation des 6. Expertengespräches „Entscheidungen im Dialog. Beteiligungsverfahren in der gemeinsamen Ausgestaltung von Leistungen für Kinder, Jugendliche und Familien“ am 28. und 29. Juni 2018 in Berlin.

Unter: https://jugendhilfe-inklusiv.de/node/85

Dokumentation der Ergebnisse des 7. Expertengesprächs „ICF - die Sprache der Inklusion? Anwendungsmöglichkeiten +Praxisbeispiele + Schlussfolgerungen“ am 27. September 2018 in Berlin.

Unter: https://jugendhilfe-inklusiv.de/node/84

Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter: Anforderungen an die Jugendämter durch das Bundesteilhabegesetz (2019). 33 S. unter: http://www.bagljae.de/content/empfehlungen/ , Nr. 140.

Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gesamtplanung in der Eingliederungshilfe und ihr Verhältnis zur Teilhabeplanung, verabschiedet am 18.6. 2019, 21 S.

Quelle: https://www.deutscher-verein.de/de/empfehlungenstellungnahmen-2019-empfehlungen-des-deutschen-vereins-zur-gesamtplanung-in-der-eingliederungshilfe-und-ihr-verhaeltnis-zur-teilhabeplanung-3564,1672,1000.html

Steinmüller, Florian (2018): Umsetzung des Bundesteilhabegesetztes – Neuregelungen und Herausforderungen für die Träger der Eingliederungshilfe im Bereich Bedarfsermittlung und ICF-Orientierung. In: NDV – Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e. V., 98 Jg., Nr. 9, S. 435-440.

Weiterführende Informationen

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm hat in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) und in enger Kooperation mit sechs Jugendämtern ein onlinebasiertes Instrument zur Einschätzung von Teilhabebeeinträchtigungen nach § 35a SGB VIII entwickelt.

Siehe: Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm (Hrsg.) (2019) Broschüre Teilhabebeeinträchtigungen von Kindern und Jugendlichen mit (drohender) seelischer Behinderung erkennen. Rechtliche Anforderungen an die Einschätzung nach Änderungen durch das Bundesteilhabegesetz und Vorstellung eines darauf abgestimmten Instruments für die Jugendhilfe.

Umsetzungsbegleitung BTHG: Bedarfsermittlung und ICF unter: https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/bthg-kompass/bk-bedarfsermittlung-icf/ (zuletzt abgerufen: 02.08.2019)

Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation (BAR) e.V. zur ICF unter: https://www.bar-frankfurt.de/themen/icf.html (zuletzt abgerufen: 02.08.2019)

Informationen zur ICF, ICF-CY unter: https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICF/_node.html6 (zuletzt abgerufen: 02.08.2019)

Instrumente sind auf wissenschaftlichen Standards aufbauende Hilfsmittel, z.B. Fragebögen oder Checklisten, auf deren Grundlage der Bedarf eines (jungen) Menschen an Hilfen/Teilhabeleistungen im Zuge des verwaltungsrechtlich normierten Verfahrens der Bedarfsermittlung festgestellt wird.

Die Rehabilitationsträger und damit auch die öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe (bislang mit Blick auf Kinder und Jugendlichen mit einer sog. (drohenden) seelischen Behinderung, § 35a SGB VIII) verwenden die Instrumente, die nach dem für sie geltenden Leistungsgesetz vorgesehenen sind. Die eingesetzten Instrumente gewährleisten insbesondere die Feststellung einer Behinderung oder einer drohenden Behinderung, die Auswirkungen auf die Teilhabe, die Ziele, die mit den Leistungen erreicht werden sollen und welche Leistungen geeignet sind, die Ziele prognostisch zu erreichen. Eine ICF-Orientierung der eingesetzten Instrumente zur Erstellung des Teilhabeplans ist gesetzlich nicht gefordert. Der zweistufige Behinderungsbegriff (§ 2 SGB IX, seelische, körperliche, geistige oder Sinnesbeeinträchtigung in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren) legt jedoch eine ICF-Orientierung für alle Rehabilitationsträger nahe.

Momentan wird in den einzelnen Bundesländern an der Entwicklung ICF-basierter und praxistauglicher Instrumente zur Bedarfsermittlung im Zuständigkeitsbereich der Eingliederungshilfe gearbeitet. Der Entwicklungsstand bildet bislang noch ein sehr breites Spektrum ab; auch sind die wenigen bereits auf Landesebene vorhandenen Instrumente längst nicht überall an die Praxis der Kommunalverwaltung angepasst bzw. entsprechend weiterentwickelt worden.

In Fachkreisen diskutiert wurden zuletzt Fragen, die auf die Möglichkeiten und Grenzen von standardisierten Instrumenten zur Bedarfsermittlung gegenüber eher lebensweltorientierten, systemischen Perspektiven (etwa: sozialpädagogische Diagnostik) abzielen. Aus dem Feld der Kinder- und Jugendhilfe wurde etwa die Sorge eingebracht, die lebensweltorientierte Perspektive aus der Hilfeplanung nach §36 SGB VIII aufgrund der Notwendigkeit, standardisierte Instrumente nutzen zu müssen, gänzlich zu verlieren und entsprechend nicht mehr angemessen die heterogenen Bedarfslagen von Kindern und Jugendlichen erfassen zu können. Dem kann entgegen gehalten werden, dass Instrumente als eine Steuerungsinstanz von Hilfesystemen immer auch die Möglichkeit bereithalten müssen, spezifische Bedarfe zu erfassen, was letztlich bedeutet: Eine durchgehende Standardisierung von Instrumenten zur Bedarfsermittlung muss im Reich der Utopie gebannt bleiben. Entsprechend ist die ICF bzw. die ICF-CY lediglich als Basis für die Erfassung von Bedarfen geeignet; es handelt sich aber weder um ein Diagnose- noch ein Assessmentinstrument. Vielmehr muss die Bedarfsermittlung mittels ICF- basierter Instrumente durch weitere disziplinenspezifische Verfahren zur Informationsgewinnung (Gutachten etc.) ergänzt werden (s. Glossar ICF). Außerdem ist auch in anderen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe der Einsatz standardisierter Instrumente – bspw. zur Gefährdungseinschätzung im Kinderschutz – bereits seit langer Zeit gängige Praxis.

Wesentliche Herausforderungen bei der Entwicklung von Instrumenten für die Bedarfsermittlung liegen in den Bereichen Beteiligung und Barrierefreiheit: Um antragstellende Personen angemessen an der Bedarfsermittlung und den anschließenden Hilfeplanungen zu beteiligen, braucht es bspw. Kommunikationshilfen bzw. Übersetzungen in leichte Sprache etc. Nicht zuletzt stehen in diesem Zusammenhang auch immer Fragen danach, was eigentlich alles mittels eines Instruments erfasst werden kann und ggf. auch darf oder erfasst werden sollte (s. Glossar Bedarf). Wo es auf der einen Seite also eher um konkrete Gestaltungsfragen, nicht nur bezüglich der Erfassung, sondern vor allem auch bezüglich der Interpretation der erhobenen Daten geht, stehen auf der anderen Seite Vertreter*innen, die dem Entwicklungsschub zur Erstellung neuer Instrumente auch Positives abgewinnen können: Im Bereich von Leistungen für Menschen mit psychischen Erkrankungen mangele es nämlich grundsätzlich an Instrumenten zur Bedarfsermittlung, wie Teilnehmende auf unseren Expertengesprächen berichteten (vgl. Dokumentation des 7. Expertengesprächs ICF - die Sprache der Inklusion? Anwendungsmöglichkeiten + Praxisbeispiele + Schlussfolgerungen am 27.09.2018 in Berlin).

Eine Weiterentwicklung der gesetzlichen Vorgaben, die ein angemessenes Verhältnis zwischen Regelungsvorgaben und Ausgestaltungsspielräumen für eine situative individuelle Hilfeplanung wahrt, ist wünschenswert, um ein integriertes Hilfeplanverfahren für alle Kinder und Jugendliche zu gestalten. Ein weiterentwickeltes, integriertes Hilfeplanverfahren erhöht die Wahrscheinlichkeit für fachlich qualifiziertes Handeln und kann vor fachfremdem Entscheidungseinflüssen schützen.

Weiterführende Informationen

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm hat in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) und in enger Kooperation mit sechs Jugendämtern ein onlinebasiertes Instrument zur Einschätzung von Teilhabebeeinträchtigungen nach § 35a SGB VIII entwickelt.

Siehe: Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm (Hrsg.) (2019) Broschüre Teilhabebeeinträchtigungen von Kindern und Jugendlichen mit (drohender) seelischer Behinderung erkennen. Rechtliche Anforderungen an die Einschätzung nach Änderungen durch das Bundesteilhabegesetz und Vorstellung eines darauf abgestimmten Instruments für die Jugendhilfe.

Gahleitner, Silke Birgitta: Diagnostisches Fallverstehen in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Unsere Jugend, München: E. Reinhardt; 70 (2018); Nr. 4, S. 146-154.

Klebba, Sigrid: Inklusive Kinder- und Jugendhilfe: die „Berliner Lösung“. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 1/2018, S. 78-82.

Winkler, Katharina: Methoden der Hilfeplangestaltung im Rahmen des HMB-W-Verfahrens. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Berlin: Selbstverlag; 99 (2019); Nr. 1, S. 13-18.

Eilers, Friedericke: Sind die Jugendämter „fit“ für § 13 SGB IX? Wichtiges von B.E.Ni. - ein selbst entwickeltes ICF-basiertes Bedarfsermittlungsinstrument der Eingliederungshilfe in Niedersachsen. Vortrag im Rahmen des 7. Expertengespräches des Dialogforums „Bund trifft kommunale Praxis“ am 27.09.2018 in Berlin

Die Begriffe Beteiligung, Partizipation  und Teilhabe  werden in Deutschland häufig synonym gebraucht, allerdings ist das jeweils damit verbundene Verständnis sowohl im Hinblick auf seine politischen Implikationen als auch in den jeweiligen Zusammenhängen durchaus unterschiedlich.

Unter politischer Beteiligung/Partizipation, wird insbesondere  das Teilnehmen, Teilhaben und/oder Mitgestalten von Bürger*innen an politisch relevanten Veränderungsprozessen – auf der Ebene der Willensbildung oder auf der Ebene der Entscheidungsfindung –  verstanden.

Die Wendung Teilhabe an der Gesellschaft  wird hingegen – insbesondere im weiten Feld sozialpolitischer Fragestellungen –  umfassender verstanden. Hier geht es um die Schaffung gleichberechtigter Teilhabemöglichkeiten für sozial benachteiligte Gruppierungen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft (z.B. Kinder/Jugendliche gegenüber Erwachsenen, Menschen mit Beeinträchtigungen, Menschen mit Migrationshintergrund etc.). Bspw. sollen die Sozialisations-, Selektions- und Unterstützungsmechanismen des Bildungssystems, des Arbeitsmarktes sowie der sozialen Sicherungssysteme sicherstellen, dass Benachteiligungen vermieden, ausgeglichen oder mindestens verringert werden.

Im Kern handelt es sich also um sozialpolitisch, pädagogisch und ethisch aufgeladene Begriffe, die, kreisend um Ideen von Mitbestimmung oder Selbstbestimmung (letzterer Begriff vor allem im Feld der Arbeit von Selbsthilfeverbänden, bspw. der Behindertenhilfe), auf ein gemeinsames Ziel weisen: Die Ermöglichung einer sowohl allgemein als auch individuell-subjektiv akzeptierten Durchsetzung von (politischen, verwaltungsrechtlichen, pädagogischen) Entscheidungen auf der Ebene derjenigen, die häufig zuvorderst und unmittelbar mit den Konsequenzen der jeweiligen Entscheidung in ihrem Lebensalltag umgehen müssen. Um sowohl allgemeine als auch subjektive Akzeptanz zu erreichen, sollen der Wille, die Interessen und Wünsche der jeweils Betroffenen im jeweiligen Entscheidungsprozess gehört und berücksichtigt werden.

In Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe soll etwa über angemessene Beteiligungsformate dafür Sorge getragen werden, dass der Wille, die Wünsche und die Bedürfnisse der Menschen in diesen Einrichtungen angemessen im institutionalisierten Alltag Berücksichtigung finden. Die Kinder- und Jugendhilfe steht außerdem durch den § 11 SGB VIII vor dem Auftrag, eine Jugendarbeit zu fördern, die auf fortschreitende Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen zielt. Die Selbstorganisation in Jugendgruppen und in der Jugend(verbands)arbeit soll der Realisierung einer eigenständigen Interessensvertretung und Jugendpolitik auf allen Ebenen dienen. Mit Schüler*innenvertretungen, Kinder- und Jugendparlamenten und Jugendringen liegen insbesondere auf kommunaler Ebene bekannte Formate vor. Auch die Selbstvertretungsinitiativen von sog. Careleaver*innen sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben - bspw. ist das Netzwerk von Careleaver e.V. bundesweit organisiert und wächst beständig.

Im Kontext der Diskussionen zur Reform des SGB VIIII hat das Thema „Mehr Beteiligung von jungen Menschen, Eltern und Familien“ einen Schwerpunkt gebildet. Im reformierten SGB VIII – auch bekannt als neues Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) – finden sich jetzt an verschiedenen Stellen rechtliche Klarstellungen zum Thema Beteiligung. In diesem Zusammenhang hervorzuheben sind insbesondere:

  •  Die Änderungen in § 4 SGB VIII und der neu eingefügte § 4a SGB VIII (Selbstorganisierte Zusammenschlüsse zur Selbstvertretung), wonach die öffentliche Jugendhilfe aufgefordert ist, selbstorganisierte Zusammenschlüsse zur Selbstvertretung anzuregen, zu fördern und auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen der freien Kinder- und Jugendhilfe hinzuwirken. Außerdem sollen selbstorganisierte Zusammenschlüsse zur Selbstvertretung in Entscheidungsprozesse, die das Gemeinwesen angehen, einbezogen werden.
  • Die Änderungen in § 8 SGB VIII (Beratung und Beteiligung von Kindern und Jugendlichen), wonach junge Menschen nun einen Rechtsanspruch auf Beratung auch ohne Kenntnis der Personenberechtigten haben. Die Beratung kann außerdem auch von einem freien Träger der Jugendhilfe erbracht werden. In § 8 Abs. 4 SGB VIII n.F. ist festgehalten, dass Beratung und Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in einer „für sie verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form“ erfolgen.
  • Die Änderungen in § 36 SGB VIII (Mitwirkung/Hilfeplan), wonach nun auch die nicht personenberechtigten Eltern an der Aufstellung und Überprüfung des Hilfeplans beteiligt werden sollen, solange der Hilfezweck dadurch nicht in Frage gestellt wird und sofern das Kind bzw. der Jugendliche zustimmt. Die Willensäußerungen und Interessen des jungen Menschen (wie auch der nicht personenberechtigten Eltern) werden in § 36 SGB VIII gewürdigt.
  • Der § 9a SGB VIII n.F. (Ombudsstellen), wonach eine bedarfsgerechte Einrichtung von Ombudsstellen sicher gestellt werden soll. Die Ombudsstellen sollen fachlich unabhängig und nicht weisungsgebunden die Beratung und Vermittlung in Konflikten im Zusammenhang mit Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe nach § 2 SGB VIII und deren Wahrnehmung durch die öffentliche und freie Kinder- und Jugendhilfe übernehmen.
  • Die Regelungen zu externen Beschwerdemöglichkeiten für Kinder/Jugendliche in Pflegeverhältnissen durch das Jugendamt (§ 37 b SGB VIII n.F.) und für Kinder/Jugendliche in Angeboten mit Betriebserlaubnis der Kinder- und Jugendhilfe (§45 SGB VIII n.F.).

Vor dem Hintergrund der jüngsten Reformen durch Inkrafttreten des BTHG und des neuen KJSG kann für die Kinder- und Jugendhilfe sowie die Behindertenhilfe möglicherweise folgende vereinfachende Definition, als mehrheitsfähiges Verständnis der verschiedenen Begrifflichkeiten, zusammengefasst werden:

Partizipation kann als entweder eher konsumierendes Teil-nehmen oder eher gestaltendes Teil-haben an Veränderungs- oder Entscheidungsprozessen verstanden werden (vgl. dazu auch Vester 2012). Voraussetzungen für ein gestaltendes Teil-haben sind zuvorderst die umfassende Information bzw. Aufklärung und die Beratung der jeweils betroffenen Personen zu allen den Entscheidungsprozess und die Entscheidung (z.B. Leistungsbewilligung) jeweils betreffenden Bedingungen und Konsequenzen. Wenn wir Partizipation mit Blick auf die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe gleichermaßen als fachliches Selbstverständnis und als wertorientierendes, handlungsleitendes Prinzip begreifen, lässt sich sagen, dass Partizipation in allen die jeweilige leistungsberechtigte Person betreffenden Entscheidungsprozessen einen ganz entscheidenden Beitrag zur Erhöhung der Chance auf eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft leistet, insbesondere für Menschen mit Beeinträchtigungen, Kinder und Jugendliche.

Für den besonders sensiblen Bereich der Hilfeplanungen ist die die Berücksichtigung der Vorstellungen, Einstellungen und Wünsche einer anspruchsberechtigten Person im BTHG und KJSG unterschiedlich scharf rechtlich normiert. Das mag auch mit den historisch unterschiedlich gewachsenen Selbstverständnissen und verschiedenen Aufträgen/Funktionen der beiden Hilfesysteme zusammenhängen. Das gestaltende Teil-haben, im Sinne eines tatsächlich realisierten Mitspracherechts insbesondere in Hilfeverfahren der Sozialleistungssysteme, kann als angestrebter Idealzustand aufgefasst werden, der in der Praxis bislang noch nicht immer ausreichend gelebt wird (zur Differenz zwischen fachlichem Verständnis und Umsetzungspraxis von Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe vgl. Hopmann/Rohrmann/Schröer/Urban-Stahl 2019). Mit den rechtlichen Regelungen aus dem BTHG und dem neuen KJSG sind wichtige Weichenstellungen erfolgt, welche die Weiterentwicklung in der konkreten Praxis vor Ort vorantreiben können.

Umfassende Partizipation zur Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe an der Gesellschaft bedarf aber auch weitreichender Voraussetzungen in der Praxis der sozialen Arbeit:

  • ausreichend Personal mit entsprechenden Zeitressourcen,
  • Haltung des Zutrauens auf Seiten der Fachkräfte gegenüber ihren Adressaten: Wille, Wünsche und Ziele können formuliert werden
  • Geschultes Personal: Partizipationsmethoden für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit und ohne Beeinträchtigungen müssen entwickelt und umgesetzt werden; Einsatz von Moderationstechniken und Kommunikationshilfen

Vergessen werden darf auch nicht die Partizipation auf Seiten der Fachkräfte. Nur wenn sie ebenfalls umfassend informiert über neue Verfahrensvorschriften, Abläufe oder Kooperationsnotwendigkeiten sind und wenn auch sie sich als aktiv Gestaltende, d.h. ihre Selbstwirksamkeit auch im engen Korsett verwaltungsrechtlich normierter Handlungsvollzüge, erfahren können, wird die Bereitschaft steigen, auch ihre „Klient*innen“ umfassend an den sie betreffenden Entscheidungsstrukturen zu beteiligen. Der Wunsch zur Veränderung und die Partizipation an den dafür notwendigen Prozessen und Entscheidungen sind die zentralen Zugkräfte für Veränderungen (vgl. Dokumentation des 7. Expertengesprächs 2018).

Literaturangaben

Hopmann, B./Rohrmann, A./Schröer, W./Urban-Stahl, U. (2019): Hilfeplanung ist mehr als ein Verfahrensablauf. Ein Plädoyer zur Öffnung der aktuellen Fachdiskussion im Kontext der SGB VIII-Reform. In: Neue Praxis – Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik 2/2019, Verlag Neue Praxis, S. 198-207.

Vester, Michael (2012): Partizipation, sozialer Status und Milieus. In: Rosenbrock, Rolf; Hartung, Susanne (Hrsg.): Handbuch Partizipation und Gesundheit. Bern: Verlag Hans Huber, S. 40-56.

Dokumentation der Ergebnisse des 7. Expertengesprächs „ICF - die Sprache der Inklusion? Anwendungsmöglichkeiten +Praxisbeispiele + Schlussfolgerungen“ am 27. September 2018 in Berlin. Unter: https://jugendhilfe-inklusiv.de/node/84

Weiterführende Informationen

Teilhabe: ein zentraler Begriff für die Kinder und Jugendhilfe und für eine offene und freie Gesellschaft. Positionspapier der AGJ- Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe, Dezember 2018, 9 S.

Auf die handlungstheoretische Bedeutung des Teilhabebegriffs verweist:

Gromann, Petra (2019): Zur Bedeutung selbstbestimmter Ziele bei der Gesamt- und Teilhabeplanung und für die sogenannte „Wirkungsorientierung“ im Bundesteilhabegesetz. In: : NDV- Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V; Berlin: Selbstverlag; 99. Jg., Nr. 7, S. 326-329.

Teubert, Anja: Orientierung am Menschen mit Beeinträchtigung. Eine Utopie oder ein Auftrag für die Soziale Arbeit im staatlichen Unterstützungssystem der Eingliederungshilfe? In: ZKJ - Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe, Köln: Bundesanzeiger; 13 (2018); Nr. 9/10, S. 364-368.

Rehabilitationsträger  sind Institutionen, die Maßnahmen zur medizinischen, sozialen oder beruflichen Rehabilitation finanzieren und/oder selbst durchführen. Das können Träger der Eingliederungshilfe (z.B. Kommune: Sozialamt, Land: Landessozialamt) als auch die öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe (Jugendämter und Landesjugendämter) sein. Mit dem Inkrafttreten des BTHG wird nun zwischen dem leistenden und ggf. weiteren, sog. beteiligten Rehabilitationsträgern unterschieden.

Als leistender  Rehabilitationsträger wird derjenige Rehabilitationsträger bezeichnet, bei dem als erstes ein Antrag auf Leistungen zur Teilhabe gestellt wurde und der nach der Zuständigkeitsprüfung (§ 14 Abs. 1 SGB IX) für eine oder mehrere in Betracht kommende Teilhabeleistungen Rehabilitationsträger sein kann. Nur wenn der sog. erstangegangene Rehabilitationsträger für keine der in Betracht zu ziehenden Teilhabeleistungen zuständig sein kann, darf der Antrag an einen anderen Rehabilitationsträger weitergeleitet werden, der nach erneuter Zuständigkeitsprüfung ggf. zum leistenden Rehabilitationsträger wird. Die Zuständigkeitsprüfung richtet sich nach dem jeweils betroffenen Leistungsgesetz (§ 7 Abs. 1 SGB IX).

Der örtliche (ggf. überörtliche) Träger der Kinder- und Jugendhilfe kann für die Bereiche der medizinischen Rehabilitation, Teilhabe am Arbeitsleben, Teilhabe an Bildung und sozialen Teilhabe als leistender Rehabilitationsträger nach § 35a SGB VIII bzw. § 41 in Verbindung mit § 35a SGB VIII zuständig sein. Lediglich die Leistungsgruppe „unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen“ fällt nicht in den Verantwortungsbereich der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe. Das bedeutet auch, dass ein „Antragsplitting“, also die Verteilung von Teilhabeleistungen auf mehrere Rehabilitationsträger, für die Kinder- und Jugendhilfe nur dann in Betracht kommt, wenn zusätzlich Teilhabeleistungen aus der Leistungsgruppe „unterhaltssichernde und ergänzende Leistungen“ beantragt sind.

Aufgaben leistender Rehabilitationsträger:

  • Feststellung des Teilhabebedarfs (Rehabilitationsbedarfs),
  • Gewährung der Leistung,
  • Verfassen des Teilhabeplans,
  • ggf. Durchführung der Teilhabeplankonferenz bzw. des Teilhabeplanverfahrens,
  • Koordinierung des Teilhabeplanverfahrens bei mehreren Rehabilitationsträgern (vgl. § 15 ff. SGB IX).

Aufgaben beteiligter Rehabilitationsträger:

  • Barrierefreie Bereitstellung von Teilhabeleistungen (gilt für alle Rehabilitationsträger).

Ziel der Änderungen ist die Vereinfachung des Zugangs zu Teilhabeleistungen für anspruchsberechtigte Personen; gerade und insbesondere dann, wenn komplexe Bedarfslagen vorliegen.  Die Zusammenarbeit unter den verschiedenen Rehabilitationsträgern soll koordiniert, also effizienter erfolgen und die Bedarfe umfassend ermittelt werden, um Leistungen möglichst nahtlos für die anspruchsberechtigten Personen zu erbringen.

Nach Einschätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter stellt die in § 14 SGB IX normierte Frist von 14 Tagen, innerhalb derer die Zuständigkeitsprüfung zu erfolgen hat, die Träger der öffentlichen Kinder-und Jugendhilfe vor „unüberwindbare praktische Probleme“ (Arbeitshilfe „Anforderungen an die Jugendämter durch das Bundesteilhabegesetz“ der BA Landesjugendämter 2019, S. 15). Als Begründung wird die Notwendigkeit zur Einholung einer ärztlichen/psychotherapeutischen Stellungnahme durch die Jugendämter zur Klärung der sachlichen Zuständigkeit bei Fällen nach § 35a SGB VIII angeführt (vgl. Arbeitshilfe „Anforderungen an die Jugendämter durch das Bundesteilhabegesetz“ der BA Landesjugendämter 2019, S. 16) . Diese beanspruche in der Regel deutlich mehr Zeit als die vorgeschriebene 14 Tage-Frist, was auf eine bundesweite Versorgungslücke bei der psycho-therapeutischen Diagnostik für Kinder und Jugendliche zurückgeführt wird. Dem hier heraus resultierenden Problem einer fristgerechten Zuständigkeitsklärung für die Jugendämter könne auch über „regelhafte Kooperationsvereinbarungen mit entsprechenden Ärzten oder Kliniken oder entsprechenden Absprachen mit dem Gesundheitsamt nur bedingt“ entgegengewirkt werden (Arbeitshilfe „Anforderungen an die Jugendämter durch das Bundesteilhabegesetz“ der BA Landesjugendämter 2019, S. 16).

Hier zeigt sich einerseits die Notwendigkeit einer Zuständigkeitsklärung respektive die Notwendigkeit eines inklusiven SGB VIII, um übermäßige Wartezeiten nach der Antragstellung für die Leistungsberechtigten als auch Verschiebebahnhöfe zwischen Jugendhilfe und Eingliederungshilfe in der Zukunft zu vermeiden. Darüber hinaus wird deutlich, dass ein weitgreifender Systemwechsel, wie er durch das BTHG bereits angeschoben wurde, vieler weiterer Entwicklungsschritte bedarf, bevor er im Sinne der Adressateninteressen in der Praxis umgesetzt werden kann.

Die durch das BTHG veränderten rechtlichen Vorgaben für Rehabilitationsträger könnten zukünftig zu einer veränderten Haltung der Rehabilitationsträger untereinander führen. Beschränkte sich die Kommunikation unter ihnen zuvor im Wesentlichen auf die Abgabe von Fällen bei Nicht-Zuständigkeit, sind sie nun gefordert, Kommunikationsstrukturen und Arbeitsabläufe im Sinne der Leistungsberechtigten neu zu organisieren.

Literaturangaben

Anforderungen an die Jugendämter durch das Bundesteilhabegesetz. Arbeitshilfe der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter Nr. 140, 2019. Quelle: http://www.bagljae.de/content/empfehlungen/

Dahm, Sabine; Kestel, Oliver (2019): Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) auf das Verfahren bei Antrag gemäß § 35a SGB VIII. In: ZKJ- Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe, 14. Jg., Nr. 5, S. 168-173.

Rössel, Max (2019): Das Bundesteilhabegesetz und die Kinder- und Jugendhilfe – gelingt der Umsetzungsprozess? In: NDV- Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V., 99. Jg., Nr. 7, S. 299-302.

Unter Schulbegleitung  ist eine Leistung zu verstehen, bei der ein/e Schüler*in mit sonderpädagogischem Förderbedarf durch eine erwachsene Person im Unterricht an einer Regelschule oder an einer Förderschule unterstützt/begleitet wird, um – trotz des sonderpädagogischen Förderbedarfs – dem Unterricht so folgen zu können, dass die erwarteten Lernziele erreicht werden können.

Es handelt sich also um eine Unterstützungs-/Ausgleichleistung: Da zuvorderst die Regelschule(n), zu einem nicht unerheblichen Teil aber auch die Förderschulen, strukturell überwiegend so  aufgestellt sind, dass nicht alle Schüler*innen am jeweiligen Unterricht teilnehmen können, ohne dass der unterrichtliche Takt aus seinem Rhythmus gebracht würde, kommen Schulbegleiter*innen zum Ausgleich dieser Differenz zum Einsatz.

Hier wird bereits deutlich: Schulbegleitung sowie die sich um den Begriff rankenden Fragestellungen können optimistisch als Übergangsphänomen(e) begriffen werden, die  bis zur Ermöglichung schulischer Inklusion (meint hier stark abstrahiert: Zugang zu bzw. Teilhabe an Bildung für alle Schülerinnen und Schüler unabhängig davon, ob eine Behinderung vorliegt oder nicht) und das heißt auch: bis zu weitreichenden strukturellen Veränderungen innerhalb des Schulsystems, nach Klärung drängen (s. Glossar Poolmodell).

Der Themenkomplex um die Schulbegleitung ist vielschichtig und beinhaltet eine Fülle kontrovers diskutierter Aspekte zur Finanzierung, Organisation, Ausbildung und Aufgaben von Schulbegleiter*innen sowie Umsetzung von Schulbegleitung. Der aktuelle Diskussionsstand zum Thema Schulbegleitung kann daher nur stark verkürzt skizziert werden.

Bezeichnung der Leistung:

Momentan werden sowohl in Forschung als auch Praxis eine Vielzahl von Begrifflichkeiten verwendet, wie z.B. Integrationshelfer*in, Schulassistent*in oder auch Schulhelfer*in, was die Etablierung und Professionalisierung dieses Aufgabenfeldes an der Schule bislang noch erschwert (vgl. Demmer/Heinrich/Lübeck 2017, S. 33-36). In Anlehnung an Demmer/Heinrich/Lübeck, die die Expertise zu Funktion und Funktionalität von Schulbegleitung im inklusiven Schulsystem im Auftrag des AFET erstellt haben, wird hier der Begriff Schulbegleitung verwendet, da, „parallel zu den Unterbestimmtheiten im Feld, in ihm sowohl die Spezifik der Unterstützungsleistung ungeklärt bleibt (Worin besteht die Begleitung?) als auch die Frage, ob primär die Schule in ihrer Funktionserfüllung begleitet wird oder aber die Schülerinnen und Schüler selbst.“ (Demmer/Heinrich/Lübeck 2017, S. 14).

Ziele der Leistung:

Teilnahme, besser: Teilhabe am Unterricht in einer Förder- oder Regelschule für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf.

Die so formulierte Zielbestimmung ist maximal unterkomplex, d.h. abstrahiert von den Unterstützungserfordernissen, Ansprüchen, Anforderungen, Erwartungen und Hoffnungen im jeweiligen Einzelfall. Eine konkrete Auflistung oder Definition der mit Schulbegleitung verbundenen Ziele sprengt den Rahmen des hier Darstellbaren.

Finanzierung der Leistung:

Grundsätzlich zuständig:

  • bei Kindern und Jugendlichen mit (drohender) seelischer Behinderung nach § 35 a SGB VIII – das Jugendamt in seiner Funktion als Rehabilitationsträger Träger
  • bei allen anderen Kindern und Jugendlichen mit Behinderung nach § 53 und § 54 SGB XII – der Eingliederungshilfeträger, z.B. Sozialamt

Im Detail:

In den einzelnen Bundesländern sind die Zuständigkeiten – wer ist örtlicher bzw. überörtlicher Träger der Eingliederungshilfe? – recht unterschiedlich geregelt. Für die Beantragung einer Schulbegleitung wird dennoch regelmäßig  ein durch die Sorgeberechtigten gestellter Antrag, eine ärztliche Stellungnahme zur Behinderung des Kindes und Feststellung seiner Zugehörigkeit zum Personenkreis nach § 53 SGB XII sowie ein Bericht der Schule, weshalb die Unterstützung per Schulbegleitung im Einzelfall notwendig ist, benötigt.

Schulbegleitung ist eine sog. privilegierte Leistung zur Teilhabe,  sie wird unabhängig vom Einkommen und Vermögen einer Familie finanziert- die Eltern müssen sich nicht an den Kosten beteiligen.

Für die Finanzierung weiterer/anderer Hilfsmittel zur Kommunikation oder Mobilität ist die  gesetzliche Krankenkasse (GKV) zuständig.

Die Finanzierung des Gehalts der Schulbegleiter*innen ist ebenfalls äußerst divers geregelt und neben landes- bzw. kommunalspezifischen Regelungen auch abhängig vom jeweiligen Arbeitgebermodell. Schulbegleiter*innen können entweder als Assistenzleistung über das persönliche Budget des anspruchsberechtigten Kindes  bei den Eltern des Kindes/Jugendlichen, oder beim Schulträger oder – als dritte Option – bei freien Trägern der Behindertenhilfe oder der Kinder- und Jugendhilfe angestellt sein. (vgl. Demmer, Heinrich, Lübke 2017, S. 18 und Kap. 5).

Herausforderungen und offene Fragen:

Um den Themenkomplex Schulbegleitung rankt sich eine Reihe von offenen und/oder sehr kontrovers diskutierten Fragen. Zuvorderst ist die Tatsache zu benennen, dass Schulbegleitungen keine „Dauerlösung“ für die Beseitigung struktureller Teilhabebarrieren im bundesdeutschen Schulsystem darstellen können. Hinzu kommt der hohe Aufwand für die Sorgeberechtigten zur Beantragung der Leistung beim Jugendamt oder dem Sozialamt; lange und komplexe Verfahren können nicht nur aufgrund einer potenziellen Differenz zwischen Bewilligung der Leistung und Schuljahresbeginn  zu Lasten des Kindes gehen, welches die Schulbegleitung benötigt (vgl. dazu auch Demmer/Heinrich/Lübeck 2017, Fegert/Ziegenhain/Meysen/Schönecker 2016) . Darüber hinaus kann auch das Verfahren selbst von den Kindern als stigmatisierend erlebt werden. Dass es außerdem eine deutliche Vereinfachung für leistungsberechtigte Kinder und ihre Sorgeberechtigten darstellen könnte, wenn nur ein Rehabilitationsträger für alle Kinder und Jugendlichen für die Bewilligung dieser Leistung zuständig wäre, soll an dieser Stelle nur am Rande erwähnt werden.

Weiterhin stellen sich beim Thema Schulbegleitung eine Reihe von Fragen, die auf den Bereich „Schulentwicklung als Organisationsentwicklung“ verweisen.

Dass Schulbegleitung ihrer Form und ihrem Inhalt nach in nahezu  jedem Bundesland, vielleicht gar an jeder Schule, etwas  anderes bedeutet, hängt nicht nur mit den heterogenen Bedarfslagen der Schülerschaft oder der verschieden gelagerten strukturellen Ausstattung (Personal, Finanzen, Raum, Zeit) der jeweiligen Einzelschule zusammen. Vielmehr sind beispielsweise Fragen zur Art und zum Umfang der Qualifizierung von Schulbegleiter*innen  nur dann zu beantworten, wenn Klarheit herrscht, welche Aufgaben und Ziele mit der Installation einer Schulbegleitung verbunden werden. Dazu wiederum wäre eine feste kooperative Einbindung der Schulbegleitungen in das Lehrerkollegium eine hilfreiche Bedingung: Anforderungen, Hoffnungen, Wünsche aber auch Bedarfe der Lehrkräfte gegenüber den Schulbegleitungen als auch umgekehrt könnten kollektiv geklärt und die gemeinsame Arbeit im Klassenzimmer auf eine belastbare Grundlage gestellt werden, die dann eher aufgrund der Bedarfslagen einzelner Schüler*innen in regelmäßigen Abständen überprüft werden müssten anstatt aufgrund von ungünstigen Kooperationsbeziehungen zwischen Schulbegleitungen und Lehrkräften und weiterem pädagogisch tätigen Personal an der Schule (z.B. Sozialarbeiter, Erzieher).

Auch mit Blick auf die weitere Professionalisierung der Schulbegleitung und ihre zielführende Installation an der Einzelschule wäre der Ausbau tragfähiger Kooperationsbeziehungen zwischen Leistungsträger (Jugendamt, Sozialamt), Leistungserbringer (z.B. über freien Träger) und Schule eine wünschenswerte Entwicklungslinie.

Nicht zuletzt sei mit Blick auf die Herausforderungen bezüglich Finanzierung und Umsetzung von Schulbegleitung auf das sog. Poolmodell/die Poollösung hingewiesen, um dem „Wildwuchs“ von Schulbegleitungen in der kommunalen Praxis entgegenzuwirken.

Literaturangaben

Demmer, Christine; Heinrich, Martin; Lübeck, Anika (2017): Funktion und Funktionalität von Schulbegleitung im inklusiven Schulsystem!? Expertise im Auftrag des AFET. AFET-Sonderveröffentlichung Nr. 11/2017, Hannover, 130S.

Deutscher Landkreistag/Deutscher Städtetag/BAGüS Juni 2019: Orientierungshilfe zur Schulbegleitung unter besonderer Berücksichtigung der Bildung von Schulbegleiterpools. 14 S.

Sasse, Ada; Kracke, Bärbel; Czempiel, Stefanie; Sommer, Sabine (2019): Schulische Inklusion in der Kommune. München: Waxmann.

Fegert, Jörg M.; Ziegenhain, Ute; Meysen, Thomas; Schönecker, Lydia (2016): Schulbegleitung als Beitrag zur Inklusion. Bestandsaufnahme und Rechtsexpertise. Schriftenreihe der Baden-Württemberg Stiftung Nr. 81. Unter: https://www.bwstiftung.de/uploads/tx_news/Schulbegleiter_web.pdf , zuletzt abgerufen: 09.08.2019

Weiterführende Informationen

Ausführlicher zur Komplexität und Problematik der mit Schulbegleitung verbundenen Ziele.

Demmer, Christine; Heinrich, Martin; Lübeck, Anika (2017): Funktion und Funktionalität von Schulbegleitung im inklusiven Schulsystem!? Expertise im Auftrag des AFET. AFET-Sonderveröffentlichung Nr. 11/2017, Hannover, Kap.3.

Dworschak, W. (2014): Schulbegleitung, die richtige Unterstützungsmaßnahme für Schüler mit (geistiger) Behinderung zur Realisierung ihres Bildungsrechts an der allgemeinen Schule? In: Kopp, B; Martschinke, S.; Munser-Kiefer, M.; et al. (Hrsg.): Individuelle Förderung und Lernen in der Gemeinschaft. Wiesbaden: Springer VS, S. 214-217.

Dworschak, W. (2014): Zur Bedeutung individueller Merkmale im Hinblick auf den Erhalt einer Schulbegleitung. Eine empirische Analyse im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung an bayerischen Förderschulen. In: Empirische Sonderpädagogik 6, Nr. 1, S. 56-72.

Lindmeier, B.; Polleschner, S. (2014): Schulassistenz – ein Beitrag zu einer inklusiven Schule oder zur Verfestigung nicht inklusiver Schulstrukturen? In: Gemeinsam Leben 22, S. 195-205.

Zur programmatischen Verortung von Zielen der Schulbegleitung:

Freie Wohlfahrtspflege NRW (2014): Schulbegleitung – ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem. Unter: https://www.freiewohlfahrtspflege-nrw.de/fileadmin/user_data/35-helfen-und-gewinnen/download/Broschuere_Schulbegleitung_Auflage2.pdf , zuletzt abgerufen: 09.08.2019

Hinter dem Begriff der Sozialraumorientierung (SRO)  verbirgt sich ein fachliches Konzept aus der sozialen Arbeit, welches die Gestaltung sozialer Räume in Wechselwirkung mit den sozialen Bedingungen und den sich hier heraus ergebenden Lebenswelten für das Subjekt fokussiert (s. dazu zum Bsp. Hinte 2009, Hinte/Treeß 2007). Unter sozialen Räumen wird im Zusammenhang mit Sozialraumorientierung sowohl ein Nahbereich, wie die Nachbarschaft oder der Kiez, als auch ein ganzes Stadtteilquartier, die Gesamtstadt als weiterer Bereich oder auch ein digitaler Raum verstanden. Worauf sich jeweils der Fokus richtet, ist abhängig von dem Gesamtkonzept, das eine Kommune zur Sozialraum-orientierung in der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt.

Die Literatur und der Diskurs um „Sozialraumorientierung“ oder „sozialraumorientierte Jugendarbeit“ ist breit, und mittlerweile kaum mehr zu überblicken. Die Wurzeln der SRO gehen auf das in den 1990er Jahren prominent gewordene Konzept der Gemeinwesenarbeit bzw. lebensweltorientierten sozialen Arbeit nach Hans Thiersch zurück. Außerdem haben zum Beispiel Früchtel et al. 2007 mit dem zweibändigen Werk „Sozialer Raum und Soziale Arbeit“ eine systematische Ausarbeitung der theoretischen Grundlagen und praktischen Ausformungen der SRO vorgelegt. Insgesamt lässt sich jedoch sagen, dass bundesweit weder im wissenschaftlichen Diskurs noch auf der Ebene der kommunalen Praxis ein einheitliches Verständnis über den Ansatz der SRO und seine Umsetzung vorliegt. Entsprechend komplex und verzweigt stellen sich die verschiedenen Perspektiven, Pro- und Contra-Argumente sowie Entwicklungsansätze und –anforderungen für die Zukunft innerhalb der einzelnen Kommunen bundesweit dar.

 

Versuch einer Definition:

Im Fachdiskurs um die Soziale Arbeit herrscht insofern überwiegend Konsens, als dass folgende 5 Prinzipien als inhaltlich-konzeptioneller Kern einer sozialraumorientierten Jugendarbeit bzw. der Sozialraumorientierung benannt werden:

  1. Orientierung an den Interessen und am Willen des/der Adressaten,
  2. Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfe,
  3. Konzentration auf individuelle und sozialraumbezogene Ressourcen,
  4. Zielgruppen- und bereichsübergreifende Sichtweise,
  5. Kooperation, Koordination und Vernetzung.

 

Im Einzelnen und stark verkürzt lässt sich im Anschluss an Früchtel et al. 2013 dazu festhalten, dass:

  •  Prinzip 1 eine Orientierung der Hilfe/Leistung an der Veränderungsbereitschaft der jeweiligen Adressaten angesichts ihrer belastenden Lebenssituationen meint. Aktive Beiträge der Adressaten zur Veränderung sollen systematisch aufgegriffen und unterstützt werden.
  • Prinzip 2  auf eine individuelle Ressourcenorientierung bei den Adressaten zielt – Hilfen/Leistungen sollen an den Stärken der Adressaten ansetzen und sie gezielt in Planung und Umsetzung einer Hilfemaßnahme einbeziehen.
  • Prinzip 3 den Fokus demgegenüber eher auf die weiteren personalen und sozialräumlichen Ressourcen richtet, von denen Adressaten umgeben sind bzw. potenziell profitieren können, etwa familiäre Beziehungen, Freunde und vorhandene Kompetenzen in diesen Lebensbereichen. Daneben gilt es  vorhandene Ressourcen, die über das Wohnquartier hinausgehen und die Gesamtstadt in den Blick nehmen, wie etwa: soziale Infrastruktur, kommunale Dienstleistungen oder vorhandene Vereine, in die Planung und Umsetzung von Hilfen sinnvoll mit einzubeziehen.
  • Prinzip 4 auf die Verbindung verschiedener Handlungsfelder und (Verwaltungs)Bereiche verweist, um möglichst passgenaue Hilfen/Leistungen im Einzelfall jenseits von Zuständigkeits- und Finanzierungsgrenzen für die jeweiligen Adressaten vorhalten zu können. In diesem Zusammenhang richtet sich der Blick gerade auf das Potenzial von (bereits vorhandenen) Regeleinrichtungen, um diese für Hilfen nutzbar zu machen, anstatt Aussonderung über Spezialisierung zu betreiben. Angesprochen ist so also auch hier eine quartiersbezogene wie stadtweite Ebene, die auf die Aktivierung, Nutzbarmachung und Verknüpfung unterschiedlicher Ressourcen, Kompetenzen und Strukturen im Interesse von Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe wie auch der Bewohner*innen eines Stadtteils gerichtet ist.
  • Prinzip 5 nach Früchtel et al. 2013 schließlich auf die „Voraussetzungen für die Verwirklichung“ der restlichen Maximen hinweist. Sowohl mit Blick auf den Einzelfall als auch auf Gruppen arbeiten Professionelle und weitere Akteure aus anderen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe und (Verwaltungs-)Bereichen zusammen, um im kontinuierlichen Austausch über die jeweils aktuellen Entwicklungen im Sozialraum, ein funktionierendes und tragfähiges Netzwerk sinnvoll abgestimmter Angebote, Aktivitäten und Ressourcen zur Unterstützung von Menschen mit Lebensbewältigungsproblemen aufzubauen. Kooperation und Vernetzung geht dabei „weit über die Zusammenarbeit verschiedener sozialpädagogischer Fachkräfte hinaus und schließt die Kooperation mit Wirtschaft, Verwaltungsressorts, weiteren Professionen (z.B. Ärzte, Therapeuten oder Juristen), aber auch den Bereich der Vereine, Verbände, Kirchengemeinden, Initiativen und die organisierten Bürger mit ein“ (Früchtel et al. 2013, S. 22).

Hinte (2009) betont: „Elementares Ziel sozialraumorientierter sozialer Arbeit ist es, dazu beizutragen, Lebensbedingungen so zu gestalten, das Menschen dort entsprechend ihren Bedürfnissen zufrieden(er) leben können.“ (Hinte 2009, S. 21).

Diese 5 Grundprinzipien der Sozialraumorientierung korrespondieren offenkundig mit den Werthaltungen und Zielvorstellungen der UN-Behindertenrechtskonvention sowie dem Empowerment-Ansatz aus den Selbsthilfeverbänden der Behindertenhilfe (vgl. ausführlich dazu Theunissen/Kulig 2011). Die handlungsbestimmenden Grundeinsichten des Empowerment-Ansatzes  betonen folgenden ethischen Werterahmen (Auszug):

  • Die Abkehr von der Defizit-Perspektive auf Menschen mit Beeinträchtigungen,
  • Das Vertrauen in die individuellen und sozialen Ressourcen.
  • Der Verzicht auf etikettierende, entmündigende und denunzierende Expertenurteile,
  • Die Grundorientierung an der Rechte-Perspektive, der Bedürfnis- und Interessenslage sowie der Lebenszukunft marginalisierter Personen.

 

Im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe, der Eingliederungshilfe, aber auch der Altenhilfe und der Sozialpsychiatrie wird entsprechend diskutiert, wie soziale Räume so (um)gestaltet werden können, dass sie niedrigschwellig  zugängliche Beratungs- und Unterstützungsangebote vorhalten, die passgenau auf die verschiedenen Bedürfnisse und Bedarfslagen von Menschen mit Lebensbewältigungsproblemen antworten. Diese systemische Perspektive des Konzepts der Sozialraumorientierung – systemisch mit Blick auf die Adressaten in ihrem individuellen Kontext aber auch systemisch mit Blick auf das Sozialleistungssystem und die Möglichkeiten, seine vielerorts noch vorherrschende Versäulung aufzubrechen – macht es auch zu einem passgenauen Ansatz für die Weiterentwicklung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe in der kommunalen Praxis. Um die vielfältigen Herausforderungen auf dem Weg zur Umsetzung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe zu bewältigen, ist ein systemischer Blickwinkel und das Hand-in-Hand-greifen verschiedener Angebote und Akteure im Sozialraum unabdingbar.  

 

Herausforderungen in Bezug auf die Weiterentwicklung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe:

1. Kinder- und Jugendhilfe = Familienhilfe?

Mit Blick auf das Feld der Sozialraumorientierung im Zusammenhang der Weiterentwicklung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe ist zunächst auf die Herausforderung der Ausweitung des Adressatenkreises der Kinder- und Jugendhilfe hinzuweisen. Angebote und Unterstützungsmaßnahmen sind zum einen systemisch, das heißt auch: auf die ganze Familie bezogen, zu denken. Zum anderen sind dabei Familien mit einem beeinträchtigten Kind ebenso mitzudenken wie Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil. Insofern stellen sich für die Kinder- und Jugendhilfe in Bezug auf einen Ausbau ihrer Angebote im Sozialraum Fragen notwendiger Zuständigkeitsklärungen – für welchen Adressatenkreis ist die Kinder- und Jugendhilfe zuvorderst zuständig? An welchen Stellen müssen Grenzen gezogen und gemeinsam mit anderen sozialstaatlichen Leistungssystemen Lösungen für komplexe und individualisiert zu betrachtende Bedarfslagen gefunden werden?

2. Fachliche Klärungen durch rechtliche Klarstellungen befördern?

Um die o.g. Fragen mit neuen Lösungsansätzen beantworten zu können, bedarf es zunächst weiterer fachlicher Klärungen, die ggf. auch durch rechtliche Klärungen im SGB VIII befördert werden könnten – so ließe sich ein Ergebnis aus unserem Expertengespräch mit dem Titel „Prävention im Sozialraum stärken“  im Jahr 2019 zusammenfassen. Im Kontext unserer Diskussionen wurde deutlich, dass Überlegungen zum Konzept der Sozialraumorientierung und zu seiner Umsetzung in der kommunalen Praxis deutlich durch fachsprachliche Verständnisdifferenzen gekennzeichnet sind. Schon die Begriffe „niedrigschwellig“ und „präventiv“ riefen Unklarheiten und Verständigungsbedarf unter unseren Expert*innen hervor, und das nicht etwa entlang der Systemgrenze zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Behindertenhilfe, sondern bereits zwischen Vertreter*innen des gleichen Systems. Vor diesem Hintergrund einigten sich unsere Expert*innen darauf, dass die Leitplanken für eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe in einem novellierten SGB VIII verankert werden sollten. Dazu zählt beispielsweise auch, dass  explizit die Verpflichtung zur Erstellung eines kommunalen Konzepts zur Sozialraumorientierung in das SGB VIII aufgenommen werden sollte. Unsere Expert*innen verbanden hiermit die Hoffnung, zumindest alle professionellen Akteure innerhalb einer Kommune zu einer geteilten Verständnisgrundlage bezüglich des Konzepts führen zu können.

3. Bewegung in der Kommune durch integrierte Stadtplanung?!

Konkret auf die Weiterentwicklung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe im Sozialraum bezogen wurden im Rahmen unseres Expertengespräches außerdem folgende Aspekte benannt:

  • Jugendhilfe, Behindertenhilfe, Gesundheitswesen, Schule und Kita ebenso wie Stadtentwicklung müssen stärker integriert gedacht werden, um allen Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern bestmögliche Bedingungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eröffnen zu können.
  • Die Eingliederungshilfe/Behindertenhilfe muss mit ihrer spezifischen Expertise einen festen Sitz in den Jugendhilfeausschüssen erhalten, um die Planungen innerhalb der Kommune entsprechend mit vorantreiben zu können.
  • Die vielerorts vernachlässigte Jugendhilfeplanung muss verbessert werden; insbesondere auch in personeller Hinsicht, um eine integrierte Planung im Sozialraum auch tatsächlich umsetzen zu können.
  • Mit Blick auf den Ausbau von Angeboten für Adressatengruppen mit sehr spezifischen Bedarfslagen, wo pflegerische oder therapeutische Unterstützung notwendig ist, wurde der Aufbau verlässlicher, rechtskreisübergreifend gedachter Kooperationsmöglichkeiten (SGB VIII, SGB IX und SGB XI) gefordert. In diesem Zusammenhang sei auch eine Neudefinition des § 3 Abs. 2 SGB VIII „Wer ist freier Träger? Bzw.: Wer kann zukünftig freier Träger sein?“ als auch eine Klärung in § 45 SGB VIII „Betriebserlaubnis“ notwendig.
  • Die AG-78-Strukturen müssen zwingend angepasst und erweitert werden.  
  • Im Zusammenhang mit den nur schwer zu klärenden Finanzierungsfragen wurde eine verstärkte Kooperation mit Partnern aus dem Sport-, Kultur- und Wohnungswirtschaftsbereich als aussichtsreicher Anknüpfungspunkt für die Zukunft einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe im Sozialraum ausgemacht.

Literaturangaben

DHG- Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (Hrsg.) (2008): Sozialraumorientierung in der Behindertenhilfe, Jülich (Selbstdruck).

Franz, D., Beck, I. (2007): Umfeld- und Sozialraumorientierung. Empfehlungen und Handlungsansätze für Hilfeplanung und Gemeindeintegration. DHG- Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (Hrsg.), Jülich (Selbstdruck).

Früchtel, Frank/Cyprian, G./Budde, W. (2007): Sozialer Raum und Soziale Arbeit: Textbook. Theoretische Grundlagen. Wiesbaden: Springer VS.

Früchtel, Frank/Cyprian, G./Budde, W. (2007): Sozialer Raum und Soziale Arbeit: Fieldbook. Methoden und Techniken. Wiesbaden: Springer VS.

Früchtel, Frank/Cyprian, G./Budde, W. (2013): Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen. 3., überarb. Auflg., Wiesbaden: Springer VS.

Hinte, Wolfgang (2009): Eigensinn und Lebensraum – zum Stand der Diskussion um das Fachkonzept „Sozialraumorientierung“. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN), 1/2009, 78. Jg., München, S. 20-33.

Hinte, W./Treeß, H. (2007): Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe. Weinheim: Beltz.

Seifert, M. (2010): Das Gemeinwesen mitdenken – Herausforderungen für die Behindertenhilfe. In: Stein, A.-D.; Krach, S.; Niediek, I.: Integration und Inklusion auf dem Weg ins Gemeinwesen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 32-50.

Theunissen, G./Kulig, W. (2011): Empowerment und Sozialraumorientierung in der professionelle Unterstützung von Menschen mit Behinderungen. In: Lampke, D. et al. (Hrsg.): Örtliche Teilhabeplanung mit und für Menschen mit Behinderungen. Wiesbaden: Springer VS, S. 269-284.

Thiersch, Hans (1992). Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel. Weinheim/Basel: Juventa Verlag.

Der Begriff Teilhabeplanung  ist als Oberbegriff für den Prozess der Erbringung und Koordination verschiedener Teilhabeleistungen zu verstehen. Sie umfasst die Bedarfsermittlung, die Bedarfsfeststellung und die Leistungsplanung. Die Teilhabeplanung wurde eingeführt, um das gegliederte System der Beantragung verschiedener Leistungen stringenter und einfacher zu gestalten. Die Teilhabeplanung dient vor allem als Koordinationsinstrument für die Arbeit der Rehabilitationsträger untereinander, um den individuellen Teilhabebedarf einer Person möglichst bedarfsgerecht decken zu können. Sie ist durchzuführen wenn:

  • Leistungen aus verschiedenen Leistungsgruppen beantragt werden,
  • Leistungen von mehreren Rehabilitationsträgern beantragt werden,
  • ein beteiligter Rehabilitationsträger das wünscht,
  • der/die Leistungsberechtigte dies wünscht.

Teilhabeplanverfahren  meint die konkrete methodische Umsetzung der Teilhabeplanung. Es wird vom leistenden Rehabilitationsträger verantwortlich koordiniert und durchgeführt. Beteiligt sind neben dem leistenden Rehabilitationsträger ggf. weitere Rehabilitationsträger, die leistungsberechtigte Person, seine/ihre Vertrauensperson und mglw. Fachkräfte des Jobcenters, der Pflegekasse, des  Integrationsamts. Die Ergebnisse aus dem Teilhabeplanverfahren werden im Teilhabeplan dokumentiert.

Der Teilhabeplan  (§ 19 SGB IX) ist das Dokument, in dem die inhaltliche und organisatorische Abstimmung einzelner Schritte aus dem Planungsprozess sowie dessen Ergebnisse schriftlich festgehalten werden. Er dient dazu Leistungen verschiedener Leistungsgruppen (§ 5 SGB IX, med. Rehabilitation, Teilhabe am Arbeitsleben, unterhalssichernde, ergänzende Leistungen, Teilhabe an Bildung und zur sozialen Teilhabe) oder mehrerer Rehabilitationsträger (§ 6 SGB IX: GKV, Bundesagentur für Arbeit, Unfallversicherung, Rentenversicherung, Kriegsopferversorgung, Träger der Jugendhilfe, Träger der Eingliederungshilfe) so zu koordinieren, dass sie nahtlos ineinander greifen. Verantwortlich für die Erstellung des Teilhabeplans ist der nach §§ 14 u. 15 SGB IX zuständige leistende Rehabilitationsträger. Der Teilhabeplan dokumentiert u.a. den ermittelten individuellen Bedarf, die Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts, die Einbeziehung von Diensten und Einrichtungen bei der Leistungserbringung und die erreichbaren und überprüfbaren Teilhabeziele. Der Teilhabeplan dokumentiert ebenfalls die zur individuellen Bedarfsfeststellung eingesetzten Instrumente (§ 13 SGB IX). Insofern sorgt er für Transparenz und Rechtssicherheit für alle am Prozess beteiligten Akteure. Ebenso wie beim Hilfeplan handelt es sich beim Teilhabeplan nicht um einen Verwaltungsakt, sondern um ein Steuerungsinstrument.

Zur Aufstellung des Teilhabeplans kann eine Teilhabeplankonferenz  durchgeführt werden, wenn der Teilhabebedarf eines Menschen mit Behinderung sehr komplex ist, bzw. wenn der/die Leistungsberechtigte dies wünscht, wenn der leistende Rehabilitationsträger dies wünscht oder beteiligte Rehabilitationsträger dies anregen. Eine Teilhabeplankonferenz setzt immer das Einverständnis der leistungsberechtigten Person voraus. (vgl. BAR 2019, Bundesteilhabegesetz kompakt – Teilhabeplanung, S. 14). An der Teilhabekonferenz nehmen auf Wunsch der Leistungsberechtigten die Bevollmächtigten und Beistände sowie Leistungserbringer teil.

Literaturangaben

BAR e.V. 2019: Bundesteilhabegesetz kompakt- Teilhabeplanung. 31 S. Unter: https://www.bar-frankfurt.de/service/publikationen.html

Betanet.de – Portal für psychosoziale und sozialrechtliche Informationen im Gesundheitswesen

Der Begriff Verfahren  kann den Ablauf des gesamten Prozesses von dem Moment des Bekanntwerdens eines Bedarfs, hin zum Bescheid über die konkrete Leistungsbewilligung als auch die in regelmäßigen Abständen neu zu erstellenden Hilfeplanungen beschreiben. Zugleich kann der Begriff auch nur auf Teilbereiche eines umfänglichen Hilfeplanungsprozesses referieren, etwa: Bedarfsermittlungsverfahren, Teilhabeplanverfahren, Gesamtplanverfahren, Hilfeplanverfahren. Das jeweilige Verfahren sowie die Koordination mehrerer sich ergänzender Verfahren (z.B. Hilfeplan und Teilhabeplan) ist in den Sozialgesetzbüchern verwaltungsrechtlich normiert (vorrangig BTHG, SGB IX; XII und SGB VIII).

Mit dem Inkrafttreten des BTHG werden momentan vor allem Fragen zur Umsetzung des Teilhabeplanverfahrens und Fragen zum Verhältnis einzelner Verfahren untereinander diskutiert.

s. dazu auch: Teilhabeplanung, Gesamtplanung, Hilfeplanung, Förder- & Behandlungsplan.

Literaturangaben

Die Fachverbände für Menschen mit Behinderung (04.07. 2014): Vorstellungen der Fachverbände für Menschen mit Behinderung zur Bedarfsermittlung und Bedarfsfeststellung der Leistungen nach dem Bundeteilhabegesetz. 20 S. unter: https://www.diefachverbaende.de/files/stellungnahmen/2014-07-16-Vorstellungen-der-Fachverbaende-zur%20Bedarfsermittlung-und-Bedarfsfestellung-der-Leistungen-nach-einem-Bundesteilhabegesetz.pdf (letzter Aufruf am 25.07.2019).

Mit Vertrauensperson  ist eine zentrale Bezugsperson einer leistungsberechtigten Person gemeint. So können sich bspw. Menschen mit Beeinträchtigungen in Gesamtplangesprächen oder auch Kinder und Jugendliche in Hilfeplangesprächen von einer von ihnen selbst benannten Vertrauensperson begleiten und unterstützen lassen. Die Vertrauensperson hat dabei in der Regel kein eigenständiges Mitspracherecht, was den Ablauf  oder Ausgang des Gespräches anbelangt; vielmehr dient sie der seelischen und psychischen Unterstützung der leistungsberechtigten/antragstellenden Person.

Das Wunsch- und Wahlrecht  der Leistungsberechtigten ist in § 5 SGB VIII als zentrales Steuerungsinstrument bei der Auswahl von Angeboten aus dem Angebotsspektrum zur Einzelfallhilfe in der Kinder- und Jugendhilfe legal definiert. Den Wünschen der Leistungsberechtigten soll entsprochen werden, sofern durch ihre Wahl keine unverhältnismäßigen Mehrkosten (gegenüber vergleichbaren Angeboten von anderen Leistungsanbietern) entstehen. Beim Vergleich der Kosten zwischen öffentlichen und freien Trägern müssen die gesamten Aufwendungen des öffentlichen Trägers für seine Einrichtung einbezogen werden. Auch in § 8 SGB IX wird das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten definiert und in § 19 BTHG in Bezug auf die Erstellung des Teilhabeplans explizit berücksichtigt. Nach § 8 SGB IX gilt in der Eingliederungshilfe:

(1) Bei der Entscheidung über die Leistungen und bei der Ausführung der Leistungen zur Teilhabe wird berechtigten Wünschen der Leistungsberechtigten entsprochen. Dabei wird auch auf die persönliche Lebenssituation, das Alter, das Geschlecht, die Familie sowie die religiösen und weltanschaulichen Bedürfnisse der Leistungsberechtigten Rücksicht genommen; im Übrigen gilt § 33 des Ersten Buches. Den besonderen Bedürfnissen von Müttern und Vätern mit Behinderungen bei der Erfüllung ihres Erziehungsauftrages sowie den besonderen Bedürfnissen von Kindern mit Behinderungen wird Rechnung getragen.

(2) Sachleistungen zur Teilhabe, die nicht in Rehabilitationseinrichtungen auszuführen sind, können auf Antrag der Leistungsberechtigten als Geldleistungen erbracht werden, wenn die Leistungen hierdurch voraussichtlich bei gleicher Wirksamkeit wirtschaftlich zumindest gleichwertig ausgeführt werden können. Für die Beurteilung der Wirksamkeit stellen die Leistungsberechtigten dem Rehabilitationsträger geeignete Unterlagen zur Verfügung. Der Rehabilitationsträger begründet durch Bescheid, wenn er den Wünschen des Leistungsberechtigten nach den Absätzen 1 und 2 nicht entspricht.

(3) Leistungen, Dienste und Einrichtungen lassen den Leistungsberechtigten möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände und fördern ihre Selbstbestimmung.

(4) Die Leistungen zur Teilhabe bedürfen der Zustimmung der Leistungsberechtigten.

Literaturangaben

Quellen:

https://www.juraforum.de/lexikon/jugendhilfe

https://www.buzer.de/gesetz/12357/a202772.htm

Mit dem Begriff Zielvereinbarung  ist das im Rahmen des Hilfeplan-, Gesamtplan-, Förder- und Behandlungsplan- und/oder Teilhabeplanverfahrens zentrale Ergebnis, welches zwischen Leistungsberechtigtem, Leistungsträger und Leistungserbringer dialogisch auszuhandeln ist, bezeichnet.

Die Zielvereinbarung ist ein ganz bedeutsamer Teil innerhalb der jeweiligen Hilfeplanung und im jeweiligen Dokument (Hilfeplan, Gesamtplan etc.) festgehalten.

Nachdem der Bedarf einer leistungsberechtigten Person ermittelt und festgestellt wurde, werden die Teilhabeziele – als Zustand, der in der Zukunft erreicht werden soll – gemeinsam mit der antragstellenden Person sowie ggf. den Sorgeberechtigten oder dem/der gesetzlichen Vertreter*in und idealer Weise einer Vertrauensperson beschrieben.

Unabhängig davon, ob wir uns in der Eingliederungshilfe, der Kinder- und Jugendhilfe oder der Komplexleistung Frühförderung befinden, sollen Zielvereinbarungen immer für alle am Hilfeprozess beteiligten Akteure transparent und nachvollziehbar formuliert sein. Dazu scheint sich das SMART-Konzept mittlerweile durchgesetzt zu haben. Danach sollten die vereinbarten Teilhabeziele in der Zielvereinbarung möglichst so dokumentiert sein, dass sie

S (spezifisch, konkret, ein Teilziel angebend),

M (messbar, d.h. der Grad der Zielerreichung sollte beobachtbar sein können),

A (akzeptiert, attraktiv, anspruchsvoll (motivierend), d.h. idealer Weise gibt es zwischen den beteiligten Parteien Konsens über das Teilhabeziel),

R (realistisch erreichbar, d.h. das Ziel ist unter den gegebenen Umständen (widerspruchsfrei) erreichbar),

T (terminiert, d.h. ein Zeitpunkt für die Zielerreichung wird angegeben)  

sind.

Zusammenführung der Leistungen aus den Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfe

Die Diskussionen um eine Zusammenführung der Leistungen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung im SGB VIII werden seit mehreren Jahrzehnten geführt und in den Kinder- und Jugendberichten bereits seit 1990 immer wieder gefordert (vgl. z.B. Positionspapier der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege 2015). Eine Zusammenführung entspräche ebenfalls dem Inklusionsleitbild der UN-Behindertenrechtskonvention.

Das Ziel einer solchen Zusammenführung liegt darin, strukturelle Barrieren abzubauen, die einem gleichberechtigten Zugang zu Teilhabeleistungen und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen durch die Zuteilung in zwei Sozialgesetzbücher (§ 35 a SGB VIII und § 53 SGB XII) momentan noch im Wege stehen.

In der 18. Legislaturperiode hatten sich die Regierungsparteien – neben einer stärkeren Berücksichtigung der UN-Behindertenrechtskonvention bei politischen Entscheidungen (vgl. Koalitionsvertrag 18. LP, S. 77) – für eine Beseitigung der Schnittstellen zwischen den Sozialgesetzbüchern ausgesprochen, um Sicherungs- und Förderlücken zu vermeiden und um im Interesse von Eltern und Kindern mit Behinderungen, Leistungen möglichst wie aus einer Hand zur Verfügung stellen zu können (vgl. Koalitionsvertrag 18. LP, S. 55 und 78).

Mit dem BTHG ist ein wesentlicher Schritt dazu realisiert worden; die Reform des SGB VIII hin zu einem inklusiven Kinder- und Jugendhilferecht bedarf jedoch in der aktuellen Legislaturperiode eines neuen Anlaufs (s. dazu www.mitreden-mitgestalten.de ).

Damals wurde in der Fachwelt u.a. die Einführung eines neuen Leistungstatbestandes „Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe“ oder auch „einheitlicher Tatbestand“ als Lösung für die Zusammenführung von HzE nach SGB VIII und Eingliederungshilfe nach SGB XII diskutiert. Jüngst greifen die Fachverbände des Deutschen Caritasverbandes die Diskussion dezidiert wieder auf und sprechen neutraler von einem „anspruchsbegründenden Tatbestand“ (s. Positionspapier der Fachverbände des Deutschen Caritasverbandes „Inklusive Lösung im SGB VIII“ 2019, S.5-9). Für die Verbindung der Leistungskataloge aus dem SGB VIII und der Eingliederungshilfe nach SGB XII machen die Fachverbände des Deutschen Caritasverbandes folgende konkreten Vorschläge:

  • „Die Formulierung des anspruchsbegründenden Tatbestands im § 27 SGB VIII hat sich bewährt und sollte daher Anknüpfungspunkt für eine Erweiterung der Vorschrift sein. Der Anspruch auf Teilhabeleistungen ist in die Norm zu integrieren, sodass ein in einer Norm ausgestalteter anspruchsbegründender Tatbestand entsteht, der Behinderung als ein (alternatives) Tatbestandselement neben anderen aufführt. Auch eine drohende Behinderung ist gleichberechtigt zu integrieren. Die Formulierung des Tatbestandselements der (drohenden) Behinderung sollte unmittelbar an § 2 SGB IX anknüpfen“ (S. 7).
  • „Die Fachverbände des Deutschen Caritasverbandes schlagen daher vor, dass in einem künftigen inklusiven SGB VIII auf die Norm, die den anspruchsbegründenden Tatbestand (wie auf S. 7 des genannten Papiers dargelegt, Anm. der Autorin) fasst, eine eigenständige Norm folgt, die regelt, dass junge Menschen, die zum berechtigten Personenkreis gehören, nach Maßgabe des individuellen Bedarfs Anspruch auf Teilhabeleistungen und Leistungen der Hilfe zur Erziehung haben. Beide Leistungskataloge werden durch eine solche Verklammerung miteinander verbunden, ohne dass eine Neufassung in §§ 28 ff. SGB VIII und in den Kapiteln 9, 10, 12, und 13 des 1. Teils des SGB IX gefassten Leistungskatalogs erforderlich würde.

Eine weitere und eigenständige Norm sollte den Anspruch der Personenberechtigten auf Hilfen zur Erziehung konstituieren, der gleichwertig neben dem Anspruch der jungen Menschen auf Hilfen zur Erziehung stehen muss.“ (S.9).

Damit wäre nicht nur die Frage nach der Anspruchsinhaberschaft geklärt, sondern auch das SGB VIII im Sinne einer inklusiven Lösung zumindest im Feld der einzelfallbezogenen Leistungen ein deutliches Stück vorangetrieben.

Ob und inwieweit tatsächlich eine Novellierung des SGB VIII auch in Bezug auf eine Verbesserung der Schnittstellen zwischen den verschiedenen Sozialgesetzbüchern erfolgt, bleibt mindestens bis zur Vorlage eines neuen Referentenentwurfs zum SGB VIII im Jahr 2020 abzuwarten.

Literaturangaben

Schönecker, Lydia (2017): Was sind Voraussetzungen für einen einheitlichen Tatbestand? Welche Stolperstellen und fachlichen Herausforderungen gibt es? Vortrag zum 2. Expertengespräch „Zusammenführung der Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfen im SGB VIII. Eine fachlich-inhaltliche Positionierung“ am 26. und 27. Oktober 2017 in Berlin, S. 41-48. Unter: https://jugendhilfe-inklusiv.de/node/89

Dokumentation der Ergebnisse des 2. Expertengesprächs „Zusammenführung der Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfen im SGB VIII. Eine fachlich-inhaltliche Positionierung“ am 26. und 27. Oktober 2017 in Berlin, 72 S.; unter: https://jugendhilfe-inklusiv.de/node/89