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Sozialraumorientierung

Hinter dem Begriff der Sozialraumorientierung (SRO)  verbirgt sich ein fachliches Konzept aus der sozialen Arbeit, welches die Gestaltung sozialer Räume in Wechselwirkung mit den sozialen Bedingungen und den sich hier heraus ergebenden Lebenswelten für das Subjekt fokussiert (s. dazu zum Bsp. Hinte 2009, Hinte/Treeß 2007). Unter sozialen Räumen wird im Zusammenhang mit Sozialraumorientierung sowohl ein Nahbereich, wie die Nachbarschaft oder der Kiez, als auch ein ganzes Stadtteilquartier, die Gesamtstadt als weiterer Bereich oder auch ein digitaler Raum verstanden. Worauf sich jeweils der Fokus richtet, ist abhängig von dem Gesamtkonzept, das eine Kommune zur Sozialraum-orientierung in der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt.

Die Literatur und der Diskurs um „Sozialraumorientierung“ oder „sozialraumorientierte Jugendarbeit“ ist breit, und mittlerweile kaum mehr zu überblicken. Die Wurzeln der SRO gehen auf das in den 1990er Jahren prominent gewordene Konzept der Gemeinwesenarbeit bzw. lebensweltorientierten sozialen Arbeit nach Hans Thiersch zurück. Außerdem haben zum Beispiel Früchtel et al. 2007 mit dem zweibändigen Werk „Sozialer Raum und Soziale Arbeit“ eine systematische Ausarbeitung der theoretischen Grundlagen und praktischen Ausformungen der SRO vorgelegt. Insgesamt lässt sich jedoch sagen, dass bundesweit weder im wissenschaftlichen Diskurs noch auf der Ebene der kommunalen Praxis ein einheitliches Verständnis über den Ansatz der SRO und seine Umsetzung vorliegt. Entsprechend komplex und verzweigt stellen sich die verschiedenen Perspektiven, Pro- und Contra-Argumente sowie Entwicklungsansätze und –anforderungen für die Zukunft innerhalb der einzelnen Kommunen bundesweit dar.

 

Versuch einer Definition:

Im Fachdiskurs um die Soziale Arbeit herrscht insofern überwiegend Konsens, als dass folgende 5 Prinzipien als inhaltlich-konzeptioneller Kern einer sozialraumorientierten Jugendarbeit bzw. der Sozialraumorientierung benannt werden:

  1. Orientierung an den Interessen und am Willen des/der Adressaten,
  2. Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfe,
  3. Konzentration auf individuelle und sozialraumbezogene Ressourcen,
  4. Zielgruppen- und bereichsübergreifende Sichtweise,
  5. Kooperation, Koordination und Vernetzung.

 

Im Einzelnen und stark verkürzt lässt sich im Anschluss an Früchtel et al. 2013 dazu festhalten, dass:

  •  Prinzip 1 eine Orientierung der Hilfe/Leistung an der Veränderungsbereitschaft der jeweiligen Adressaten angesichts ihrer belastenden Lebenssituationen meint. Aktive Beiträge der Adressaten zur Veränderung sollen systematisch aufgegriffen und unterstützt werden.
  • Prinzip 2  auf eine individuelle Ressourcenorientierung bei den Adressaten zielt – Hilfen/Leistungen sollen an den Stärken der Adressaten ansetzen und sie gezielt in Planung und Umsetzung einer Hilfemaßnahme einbeziehen.
  • Prinzip 3 den Fokus demgegenüber eher auf die weiteren personalen und sozialräumlichen Ressourcen richtet, von denen Adressaten umgeben sind bzw. potenziell profitieren können, etwa familiäre Beziehungen, Freunde und vorhandene Kompetenzen in diesen Lebensbereichen. Daneben gilt es  vorhandene Ressourcen, die über das Wohnquartier hinausgehen und die Gesamtstadt in den Blick nehmen, wie etwa: soziale Infrastruktur, kommunale Dienstleistungen oder vorhandene Vereine, in die Planung und Umsetzung von Hilfen sinnvoll mit einzubeziehen.
  • Prinzip 4 auf die Verbindung verschiedener Handlungsfelder und (Verwaltungs)Bereiche verweist, um möglichst passgenaue Hilfen/Leistungen im Einzelfall jenseits von Zuständigkeits- und Finanzierungsgrenzen für die jeweiligen Adressaten vorhalten zu können. In diesem Zusammenhang richtet sich der Blick gerade auf das Potenzial von (bereits vorhandenen) Regeleinrichtungen, um diese für Hilfen nutzbar zu machen, anstatt Aussonderung über Spezialisierung zu betreiben. Angesprochen ist so also auch hier eine quartiersbezogene wie stadtweite Ebene, die auf die Aktivierung, Nutzbarmachung und Verknüpfung unterschiedlicher Ressourcen, Kompetenzen und Strukturen im Interesse von Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe wie auch der Bewohner*innen eines Stadtteils gerichtet ist.
  • Prinzip 5 nach Früchtel et al. 2013 schließlich auf die „Voraussetzungen für die Verwirklichung“ der restlichen Maximen hinweist. Sowohl mit Blick auf den Einzelfall als auch auf Gruppen arbeiten Professionelle und weitere Akteure aus anderen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe und (Verwaltungs-)Bereichen zusammen, um im kontinuierlichen Austausch über die jeweils aktuellen Entwicklungen im Sozialraum, ein funktionierendes und tragfähiges Netzwerk sinnvoll abgestimmter Angebote, Aktivitäten und Ressourcen zur Unterstützung von Menschen mit Lebensbewältigungsproblemen aufzubauen. Kooperation und Vernetzung geht dabei „weit über die Zusammenarbeit verschiedener sozialpädagogischer Fachkräfte hinaus und schließt die Kooperation mit Wirtschaft, Verwaltungsressorts, weiteren Professionen (z.B. Ärzte, Therapeuten oder Juristen), aber auch den Bereich der Vereine, Verbände, Kirchengemeinden, Initiativen und die organisierten Bürger mit ein“ (Früchtel et al. 2013, S. 22).

Hinte (2009) betont: „Elementares Ziel sozialraumorientierter sozialer Arbeit ist es, dazu beizutragen, Lebensbedingungen so zu gestalten, das Menschen dort entsprechend ihren Bedürfnissen zufrieden(er) leben können.“ (Hinte 2009, S. 21).

Diese 5 Grundprinzipien der Sozialraumorientierung korrespondieren offenkundig mit den Werthaltungen und Zielvorstellungen der UN-Behindertenrechtskonvention sowie dem Empowerment-Ansatz aus den Selbsthilfeverbänden der Behindertenhilfe (vgl. ausführlich dazu Theunissen/Kulig 2011). Die handlungsbestimmenden Grundeinsichten des Empowerment-Ansatzes  betonen folgenden ethischen Werterahmen (Auszug):

  • Die Abkehr von der Defizit-Perspektive auf Menschen mit Beeinträchtigungen,
  • Das Vertrauen in die individuellen und sozialen Ressourcen.
  • Der Verzicht auf etikettierende, entmündigende und denunzierende Expertenurteile,
  • Die Grundorientierung an der Rechte-Perspektive, der Bedürfnis- und Interessenslage sowie der Lebenszukunft marginalisierter Personen.

 

Im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe, der Eingliederungshilfe, aber auch der Altenhilfe und der Sozialpsychiatrie wird entsprechend diskutiert, wie soziale Räume so (um)gestaltet werden können, dass sie niedrigschwellig  zugängliche Beratungs- und Unterstützungsangebote vorhalten, die passgenau auf die verschiedenen Bedürfnisse und Bedarfslagen von Menschen mit Lebensbewältigungsproblemen antworten. Diese systemische Perspektive des Konzepts der Sozialraumorientierung – systemisch mit Blick auf die Adressaten in ihrem individuellen Kontext aber auch systemisch mit Blick auf das Sozialleistungssystem und die Möglichkeiten, seine vielerorts noch vorherrschende Versäulung aufzubrechen – macht es auch zu einem passgenauen Ansatz für die Weiterentwicklung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe in der kommunalen Praxis. Um die vielfältigen Herausforderungen auf dem Weg zur Umsetzung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe zu bewältigen, ist ein systemischer Blickwinkel und das Hand-in-Hand-greifen verschiedener Angebote und Akteure im Sozialraum unabdingbar.  

 

Herausforderungen in Bezug auf die Weiterentwicklung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe:

1. Kinder- und Jugendhilfe = Familienhilfe?

Mit Blick auf das Feld der Sozialraumorientierung im Zusammenhang der Weiterentwicklung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe ist zunächst auf die Herausforderung der Ausweitung des Adressatenkreises der Kinder- und Jugendhilfe hinzuweisen. Angebote und Unterstützungsmaßnahmen sind zum einen systemisch, das heißt auch: auf die ganze Familie bezogen, zu denken. Zum anderen sind dabei Familien mit einem beeinträchtigten Kind ebenso mitzudenken wie Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil. Insofern stellen sich für die Kinder- und Jugendhilfe in Bezug auf einen Ausbau ihrer Angebote im Sozialraum Fragen notwendiger Zuständigkeitsklärungen – für welchen Adressatenkreis ist die Kinder- und Jugendhilfe zuvorderst zuständig? An welchen Stellen müssen Grenzen gezogen und gemeinsam mit anderen sozialstaatlichen Leistungssystemen Lösungen für komplexe und individualisiert zu betrachtende Bedarfslagen gefunden werden?

2. Fachliche Klärungen durch rechtliche Klarstellungen befördern?

Um die o.g. Fragen mit neuen Lösungsansätzen beantworten zu können, bedarf es zunächst weiterer fachlicher Klärungen, die ggf. auch durch rechtliche Klärungen im SGB VIII befördert werden könnten – so ließe sich ein Ergebnis aus unserem Expertengespräch mit dem Titel „Prävention im Sozialraum stärken“  im Jahr 2019 zusammenfassen. Im Kontext unserer Diskussionen wurde deutlich, dass Überlegungen zum Konzept der Sozialraumorientierung und zu seiner Umsetzung in der kommunalen Praxis deutlich durch fachsprachliche Verständnisdifferenzen gekennzeichnet sind. Schon die Begriffe „niedrigschwellig“ und „präventiv“ riefen Unklarheiten und Verständigungsbedarf unter unseren Expert*innen hervor, und das nicht etwa entlang der Systemgrenze zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Behindertenhilfe, sondern bereits zwischen Vertreter*innen des gleichen Systems. Vor diesem Hintergrund einigten sich unsere Expert*innen darauf, dass die Leitplanken für eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe in einem novellierten SGB VIII verankert werden sollten. Dazu zählt beispielsweise auch, dass  explizit die Verpflichtung zur Erstellung eines kommunalen Konzepts zur Sozialraumorientierung in das SGB VIII aufgenommen werden sollte. Unsere Expert*innen verbanden hiermit die Hoffnung, zumindest alle professionellen Akteure innerhalb einer Kommune zu einer geteilten Verständnisgrundlage bezüglich des Konzepts führen zu können.

(siehe weiterführend hierzu auch die Dokumentation des Expertengesprächs unter: https://jugendhilfe-inklusiv.de/expertengespraeche )

3. Bewegung in der Kommune durch integrierte Stadtplanung?!

Konkret auf die Weiterentwicklung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe im Sozialraum bezogen wurden im Rahmen unseres Expertengespräches außerdem folgende Aspekte benannt:

  • Jugendhilfe, Behindertenhilfe, Gesundheitswesen, Schule und Kita ebenso wie Stadtentwicklung müssen stärker integriert gedacht werden, um allen Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern bestmögliche Bedingungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eröffnen zu können.
  • Die Eingliederungshilfe/Behindertenhilfe muss mit ihrer spezifischen Expertise einen festen Sitz in den Jugendhilfeausschüssen erhalten, um die Planungen innerhalb der Kommune entsprechend mit vorantreiben zu können.
  • Die vielerorts vernachlässigte Jugendhilfeplanung muss verbessert werden; insbesondere auch in personeller Hinsicht, um eine integrierte Planung im Sozialraum auch tatsächlich umsetzen zu können.
  • Mit Blick auf den Ausbau von Angeboten für Adressatengruppen mit sehr spezifischen Bedarfslagen, wo pflegerische oder therapeutische Unterstützung notwendig ist, wurde der Aufbau verlässlicher, rechtskreisübergreifend gedachter Kooperationsmöglichkeiten (SGB VIII, SGB IX und SGB XI) gefordert. In diesem Zusammenhang sei auch eine Neudefinition des § 3 Abs. 2 SGB VIII „Wer ist freier Träger? Bzw.: Wer kann zukünftig freier Träger sein?“ als auch eine Klärung in § 45 SGB VIII „Betriebserlaubnis“ notwendig.
  • Die AG-78-Strukturen müssen zwingend angepasst und erweitert werden.  
  • Im Zusammenhang mit den nur schwer zu klärenden Finanzierungsfragen wurde eine verstärkte Kooperation mit Partnern aus dem Sport-, Kultur- und Wohnungswirtschaftsbereich als aussichtsreicher Anknüpfungspunkt für die Zukunft einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe im Sozialraum ausgemacht.
Literaturangaben: 

DHG- Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (Hrsg.) (2008): Sozialraumorientierung in der Behindertenhilfe, Jülich (Selbstdruck).

Franz, D., Beck, I. (2007): Umfeld- und Sozialraumorientierung. Empfehlungen und Handlungsansätze für Hilfeplanung und Gemeindeintegration. DHG- Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (Hrsg.), Jülich (Selbstdruck).

Früchtel, Frank/Cyprian, G./Budde, W. (2007): Sozialer Raum und Soziale Arbeit: Textbook. Theoretische Grundlagen. Wiesbaden: Springer VS.

Früchtel, Frank/Cyprian, G./Budde, W. (2007): Sozialer Raum und Soziale Arbeit: Fieldbook. Methoden und Techniken. Wiesbaden: Springer VS.

Früchtel, Frank/Cyprian, G./Budde, W. (2013): Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen. 3., überarb. Auflg., Wiesbaden: Springer VS.

Hinte, Wolfgang (2009): Eigensinn und Lebensraum – zum Stand der Diskussion um das Fachkonzept „Sozialraumorientierung“. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN), 1/2009, 78. Jg., München, S. 20-33.

Hinte, W./Treeß, H. (2007): Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe. Weinheim: Beltz.

Seifert, M. (2010): Das Gemeinwesen mitdenken – Herausforderungen für die Behindertenhilfe. In: Stein, A.-D.; Krach, S.; Niediek, I.: Integration und Inklusion auf dem Weg ins Gemeinwesen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 32-50.

Theunissen, G./Kulig, W. (2011): Empowerment und Sozialraumorientierung in der professionelle Unterstützung von Menschen mit Behinderungen. In: Lampke, D. et al. (Hrsg.): Örtliche Teilhabeplanung mit und für Menschen mit Behinderungen. Wiesbaden: Springer VS, S. 269-284.

Thiersch, Hans (1992). Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel. Weinheim/Basel: Juventa Verlag.

Weiterführende Informationen: 

Dokumentation des Expertengesprächs „Prävention im Sozialraum stärken“ unter: https://jugendhilfe-inklusiv.de/expertengespraeche