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Hilfe - Leistung

Die Begriffe Hilfe  und  Leistung   können, originär verstanden, den gleichen funktionalen Sachverhalt bezeichnen, nämlich eine staatlich finanzierte Sozialleistung zur Unterstützung einer Person in ihrem Lebensalltag (z.B. Schulbegleitung, Assistenzen, Beratung etc.). In den Systemen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendhilfe steht jedoch jeweils ein unterschiedliches Verständnis hinter diesen Begriffen. Das liegt in der historisch differenten Genese der beiden Hilfesysteme und der damit in Zusammenhang stehenden Haltung der Leistungserbringer*innen gegenüber ihren Leistungsempfänger*innen begründet.

In der Kinder- und Jugendhilfe hat der Begriff Hilfe Tradition. Die Kinder- und Jugendhilfe und hier im Besonderen die Hilfen zur Erziehung (HzE) zielen darauf ab, Eltern dabei zu unterstützen, ihre Aufgaben zur Erziehung und Entwicklung ihrer Kinder zu gemeinschaftsfähigen und autonomen Subjekten bestmöglich wahrzunehmen. Fachlich baut die Hilfeplanung in der Kinder- und Jugendhilfe entsprechend dem professionellen Selbstverständnis Sozialer Arbeit auf dem Prinzip der Lebensweltorientierung, d.h. auf einer systemischen Perspektive, auf. Die Inanspruchnahme einer durch das Jugendamt finanzierten Unterstützung aus den HzE setzt voraus, dass die Eltern ihre Hilfebedürftigkeit anerkennen. Erst nach Einwilligung der Eltern ist das Jugendamt berechtigt, in das Familiensystem mit den jeweils als angemessen betrachteten Hilfen einzugreifen. Die Einsicht in eine Hilfebedürftigkeit ist aber nicht selten schambehaftet, der Wunsch nach einer von staatlicher Einflussnahme befreiten Aufrechterhaltung der Autonomie des Familiensystems groß; daneben sind nicht alle Anspruchsberechtigten hinreichend über die gesetzlich normierten Ansprüche informiert. Daraus ergibt sich für die Mitarbeiter*innen im Jugendamt (ASD/RSD) die Daueraufgabe, bei den Familien um die Inanspruchnahme der Hilfen zu werben. Aufbau und Fortführung des Arbeitsbündnisses zwischen der Fachkraft des öffentlichen Jugendhilfeträgers und der Familie stehen im Spannungsverhältnis von Hilfe und Kontrolle. Das konstitutive Strukturproblem sozialer Arbeit kommt im Arbeitsfeld der HzE besonders deutlich zum Ausdruck.

In der Behindertenhilfe hat sich hingegen der Begriff Leistung  etabliert. Hier dominiert fachlich das Prinzip der Personenzentrierung und eine selbstbewusste Grundhaltung auf Seiten der Leistungsberechtigten bzw. ihrer Vertreter*innen: Der Staat ist dafür zuständig, einen signifikanten Beitrag zur Überwindung von Teilhabebeeinträchtigungen für Menschen mit Behinderungen zu leisten. Während in der Kinder- und Jugendhilfe (KJH) die Sorge der Familie vor einem Autonomieverlust aufgrund staatlicher Einflussnahme handlungsleitend für die Arbeit sein kann, steht in der Behindertenhilfe die Durchsetzung des Rechts auf großmöglichste Autonomie bei der Teilhabe an der Gesellschaft im Vordergrund. Dennoch hatten sich die Vertreter*innen der Fachverbände der Behindertenhilfe im Kontext der Debatten um ein inklusives SGB VIII inzwischen deutlich dafür ausgesprochen, von dem Begriff der Leistung abzusehen und sich dem Hilfeverständnis der KJH anzuschließen (vgl. Dokumentation 2. Expertengespräch 2017, S. 44). Stellen wir in Rechnung, dass der Hilfebegriff im Alltagsverständnis immer ein asymmetrisches Beziehungsverhältnis zwischen Hilfegeber*in und Hilfeempfänger*in impliziert und berücksichtigen wir die Entwicklungsgeschichte der Behindertenhilfe, die, nicht nur in Deutschland, durch ein jahrzehntelanges Ringen um die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung geprägt ist, wird das beachtliche Ausmaß dieses Zugeständnisses deutlich. Dieser Schritt mag der Behindertenhilfe durch die Konjunktur der sozialpolitischen Bedeutung des Teilhabebegriffs erleichtert worden sein. Als sozialpolitisches Konzept wird Teilhabe mittlerweile im Sinne von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung verstanden und findet sich in eben dieser Bedeutung auch rechtlich normiert im BTHG wieder. So verstanden, löst das sozialpolitische Konzept der Teilhabe die von Selbsthilfeverbänden/von der Behindertenhilfe seit vielen Jahrzehnten kritisierten Konzepte der Fürsorge und Versorgung von Menschen mit Beeinträchtigungen endgültig ab.

Umgekehrt haben sich Vertreter*innen beider Systeme aber auch für eine Übernahme des Leistungsbegriffs in das System der Kinder- und Jugendhilfe ausgesprochen. Zentraler Bezugspunkt in dem Zusammenhang war das pragmatische Argument, dass Leistungen aus Sozialgesetzbüchern abgeleitet werden und insofern eine Ausweitung des Leistungsbegriffs auf alle Sozialleistungssysteme eine naheliegende Lösung für das in Rede stehende Verständigungsproblem und damit letztlich für das weitere Zusammenwachsen der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe sein könnte (vgl. Dokumentation 2. Expertengespräch 2017, S. 57).

Der Unterschied zwischen dem systemischen Blick der Jugendhilfe und dem personenzentrierten Blick der Eingliederungshilfe wird zwischen Jugend- und Behindertenhilfe immer wieder thematisiert. Auf der Ebene der kommunalen Praxis sollten sich beide Perspektiven derart ergänzen, dass die Personenzentrierung den Ausgangspunkt bildet und dann in die systemische Betrachtung und den Einbezug des Umfeldes übergeht. Dazu könnten ICF-basierte Instrumente zur Bedarfsermittlung möglicherweise einen die bisherige Perspektive des jeweiligen Hilfesystems erweiternden Beitrag leisten (s. ICF).

Mit Blick auf die Zukunft einer inklusiven Kinder- Jugendhilfe lässt sich die Frage aufwerfen, inwiefern mit einem veränderten Begriffsverständnis – von Leistung zu Hilfe oder von Hilfe zu Leistung – auch Prozesse eines veränderten professionellen Selbstverständnisses in den beiden (hoffentlich weiter zusammenwachsenden) Hilfe-/Verwaltungssystemen respektive ihren originären Bezugsdisziplinen (Soziale Arbeit, Sonderpädagogik, Heilpädagogik, Rehabilitationspädagogik, Verwaltungswissenschaften) einhergehen werden und welche Bedeutung das für die kommunale Praxis haben kann.

Literaturangaben: 

Dokumentation der Ergebnisse des 2. Expertengesprächs „Zusammenführung der Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfen im SGB VIII. Eine fachlich-inhaltliche Positionierung“ am 26. und 27. Oktober 2017 in Berlin.

Unter: https://jugendhilfe-inklusiv.de/sites/default/files/EXP-Dokus/ergebnis_exp_2.pdf