Der Begriff Gesamtplanung beschreibt den gesamten Prozess der Bedarfsermittlung im Feld der Eingliederungshilfe. Die Gesamtplanung kann ein Teil der Teilhabeplanung sein. Das Teilhabeplanverfahren (§ 19 SGB IX) gilt für alle der in § 6 SGB IX genannten Rehabilitationsträger und ist von diesen zwingend zu beachten, auch von den Trägern der Eingliederungshilfe. Das Gesamtplanverfahren wird für die Leistungen der Eingliederungshilfe durchgeführt, wenn ausschließlich eine Leistungsgruppe nach § 5 SGB IX in Betracht kommt. Dann hat der Eingliederungshilfeträger, gemäß § 21 SGB IX ergänzend zu den Vorschriften des Teilhabeplanverfahrens, die Vorschriften für die Gesamtplanung (§ 117 ff. SGB IX) im zweiten Teil des SGB IX zu beachten. Es handelt sich um ein Verfahren, in dem beide Vorgaben der Teilhabeplanung und Gesamtplanung sich ergänzen und nicht ausschließen.
Die Gesamtplanung der Eingliederungshilfe beginnt – ebenso wie die Hilfeplanung in der Kinder- und Jugendhilfe – mit dem Bekanntwerden eines Bedarfs. Ab dem 01.01.2020, mit dem Einsetzen der dritten Reformstufe des BTHG, reicht dafür allerdings nicht mehr die mündliche Form aus; stattdessen muss ein schriftlicher Antrag gestellt werden.
Das Gesamtplanverfahren muss immer dann durchgeführt werden, wenn Leistungen aus der Eingliederungshilfe in Betracht gezogen werden. Im Gegensatz zum Teilhabeplanverfahren ist das Gesamtplanverfahren also auch dann durchzuführen, wenn keine weiteren Rehabilitationsträger beteiligt sind oder nur Leistungen aus einer Leistungsgruppe (z.B. nur Teilhabe an Bildung) beantragt werden. Ist die Durchführung eines Teilhabeplanverfahrens notwendig, ist das Gesamtplanverfahren Gegenstand des Teilhabeplanverfahrens. Im Rahmen der Teilhabeplanung gelten die Regeln für die Gesamtplanung dann ergänzend. Im Zentrum des Gesamtplanverfahrens steht die Ermittlung, Feststellung und Sicherstellung der in Frage kommenden Leistungen. Es dient der Steuerung, Planung, Dokumentation und Wirkungskontrolle von Leistungen aus der Eingliederungshilfe (vgl. § 121 Abs. 2 SGB IX). Insofern nimmt die Bedarfsermittlung (s. Bedarfsermittlung, ICF) im Rahmen des Gesamtplanverfahrens eine ganz bedeutende Position ein; sie ist die wesentliche Voraussetzung, um die Planung und Koordination der Leistungen möglichst bedarfsgerecht durchführen zu können.
Verantwortlich für die Durchführung ist der jeweilige Träger der Eingliederungshilfe, der auch für die Leistung zuständig ist. Nach den ab 01.01.2020 für alle Eingliederungshilfeträger geltenden Verfahrensvorschriften für das Gesamtplanverfahren, sind die Beteiligung der leistungsberechtigten Person an allen Verfahrensschritten des Gesamtplanverfahrens sowie die Dokumentation ihrer Wünsche zu den Zielen und Art der Umsetzung von Teilhabeleistungen obligatorisch (vgl. § 117 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX n.F). Mit dem Erlass des Bewilligungsbescheids durch den Eingliederungshilfeträger (=Verwaltungsakt) endet das Gesamtplanverfahren vorläufig – solange bis der erstellte Gesamtplan einer Überprüfung bzw. Fortschreibung bedarf oder neue Bedarfe bekannt werden.
Neue Anforderungen an die Jugendämter durch das Inkrafttreten des neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes
Durch das Inkrafttreten des neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes am 10.06.2021 stehen die Jugendämter in ihrer Funktion als öffentlicher Träger von Kinder- und Jugendhilfeleistungen nunmehr in der Pflicht, in beratender Funktion am Gesamtplanverfahren teilzunehmen. Folgende Regelungen gelten nun:
§ 10a Abs. 3 SGB VIII n.F.: Bei minderjährigen Leistungsberechtigten nach § 99 SGB IX nimmt der Träger der öffentlichen Jugendhilfe mit Zustimmung des Personensorgeberechtigten am Gesamtplanverfahren nach § 117 Abs. 6 SGB IX beratend teil.
§ 117 Abs. 6 SGB IX n.F.: Bei minderjährigen Leistungsberechtigten wird der nach § 86 SGB VIII zuständige örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe vom Träger der Eingliederungshilfe mit Zustimmung des Personensorgeberechtigten informiert und nimmt am Gesamtplanverfahren beratend teil, soweit dies zur Feststellung der Leistungen der Eingliederungshilfe nach den Kap. 3 bis 6 erforderlich ist. Hiervon kann in begründeten Ausnahmefällen abgesehen werden, insbesondere wenn durch die Teilnahme des zuständigen örtlichen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe das Gesamtplanverfahren verzögert würde.
§ 119 Abs. 1 SGB IX n.F.: ... ²Die Leistungsberechtigten, die beteiligten Rehabilitationsträger und bei minderjährigen Leistungsberechtigten der nach § 86 SGB VIII zuständige örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe, können dem [...] Träger der Eingliederungshilfe die Durchführung einer Gesamtplankonferenz vorschlagen.
Begründung RegE zu § 117 Abs. 6 SGB IX n.F., S. 137: Mit der Regelung wird funktionell sichergestellt, dass bis zur schrittweisen Zusammenführung der Zuständigkeiten [...] im Jahr 2028 bzw. der Einführung der [...] „Verfahrenslotsen“ beim Jugendamt im Jahr2024 die spezifischen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen, die sich in vielfältiger Hinsicht grundsätzlich von den Bedarfen Erwachsener unterscheiden, im Hinblick auf die Leistungsgewährung der Eingliederungshilfe [...] zum Tragen kommen. Dabei geht es insbesondere um die Berücksichtigung der Spezifika der Lebensphase „Kindheit und Jugend“, in der die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung und die Erziehung für die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft von zentraler Bedeutung sind und insbesondere auch das Beziehungsgefüge der Familie insgesamt, vor allem zwischen dem Kind [...] und seinen Eltern, als System besondere Beachtung finden muss. Die Beteiligung des Jugendamts im Gesamtplanverfahren kann auch der Abstimmung und gemeinsamen Klärung bei einer im Einzelfall schwierigen Abgrenzung zwischen erzieherischen und behinderungsbedingten Bedarfen dienen. Die beratende Mitwirkung [...] bezieht sich nicht auf das Jugendamt in seiner Funktion als Rehabilitationsträger. Es hat vielmehr seine Expertise in Wahrnehmung seines [§ 1 SGB VIII-] Auftrags [...] in die Gesamtplanung einzubringen, um zur Bedarfsgerechtigkeit der nach dem SGB IX dem betreffenden Kind [...] zu gewährenden Leistungen der Eingliederungshilfe beizutragen.
Zusammenfassend ergibt sich also die Aufgabe einer regelhaften Teilnahme des Jugendamts am Gesamtplanverfahren unter folgenden Bedingungen (vgl. hierzu den Vortrag von Schönecker, Lydia (2021), Folie 5 zur 9. Plattform für öffentlichen Erfahrungsaustausch des Dialogforums, unter: https://jugendhilfe-inklusiv.de/sites/default/files/difu_gesamtplanung_1...):
(§10a Abs. 3 SGB VIII-E, §117 Abs. 6, §119 Abs. 1 SGB IX-E)
- mit Zustimmung der Personensorgeberechtigten informiert der Träger der Eingliederungshilfe das Jugendamt
- beratende Teilnahme des Jugendamts, soweit dies zur Feststellung der Eingliederungshilfeleistungen erforderlich ist
- Vorschlagsrecht des JAmts für Gesamtplankonferenz (§119 Abs. 1)
- Ausnahme: Teilnahme verzögert das Verfahren
Hieraus ergeben sich mindestens folgende Fragen für die Arbeit der Jugendämter, die jetzt nach Klärung drängen (vgl. dazu Schönecker 2021, Folie 7-8):
Zeitpunkt: An welcher konkreten Stelle im Verfahren? (Gesamtplankonferenz = „Beratung auf der Grundlage der Ergebnisse der Bedarfsermittlung“) – wie lässt sich die Aufgabe zeitlich realistisch in das beschleunigte Verfahren einpassen?
Aufgaben und Rolle: Wie kommt das Jugendamt mit Kind und Familie in Kontakt, v.a. wenn keine Gesamtplankonferenz stattfindet (= eigener Beratungsprozess?). Wie gelingt Vertrauensherstellung? Wer führt die Aufgabe aus? (ASD oder §35a-Spezialdienst?)
Kompetenzen: Welche Expertise und Kompetenzen werden im Umgang mit behinderungs-bedingten Einschränkungen und Bedarfen gebraucht? (z.B. Kommunikation in leichter Sprache)? Braucht es neue sozialpädagogische Perspektiven im Kontext von Familien mit Kindern mit (schweren) körperlichen und/oder geistigen Behinderungen?
Abstimmungsbedarfe: Wie werden ggf. weitergehende Jugendhilfeleistungen verbindlich im Planungsprozess aufgenommen und mit dem eigenen Verfahren abgestimmt? Ist es sinnvoll, mit den Trägern der Eingliederungshilfe fallübergreifende Absprachen für diese Zusammenarbeit zu treffen?
Der Gesamtplan ist das Dokument, in dem die Ergebnisse nach der Bedarfsermittlung und Bedarfsfeststellung festgehalten werden. Neben den konkreten festgestellten Bedarfen werden in ihm auch die eingesetzten Verfahren und Instrumente sowie Maßstäbe zur Wirkungskontrolle festgehalten. Daneben enthält er geplante bzw. durchgeführte Maßnahmen sowie vereinbarte Ziele. Wesentlich ist, dass gerade bei unterschiedlichen Vorstellungen zwischen Leistungsträger, Leistungserbringer und Leistungsberechtigten bezüglich gewünschter Unterstützungsleistungen oder Teilhabeziele bestehen, auch gerade diese festgehalten werden. So dient der Gesamtplan als zentrales Steuerungsinstrument innerhalb der Gesamtplanung; er schafft Transparenz für alle am Prozess beteiligten Akteure. Damit ist auch gesagt, dass der Träger der Eingliederungshilfe verpflichtet ist, den Gesamtplan der leistungsberechtigten Person zur Verfügung zu stellen; so soll der Anspruch an Partizipation/Beteiligung der leistungsberechtigten Person sicher gestellt sein.
Der Gesamtplan dient insofern auch als Grundlage für die Bewilligung bzw. Weitergewährung von Leistungen; er ist spätestens nach zwei Jahren zu überprüfen bzw. fortzuschreiben.
Die Gesamtplankonferenz kann – ebenso wie die Teilhabeplankonferenz – durchgeführt werden, sie muss aber nicht durchgeführt werden. Ebenso wie bei der Teilhabeplankonferenz ist die Gesamtplankonferenz nur dann zwingend durchzuführen, wenn Eltern mit Beeinträchtigungen Leistungen für ihre Kinder beantragen. Sie bedarf, auch gleichklängig zur Teilhabeplankonferenz, immer der Einwilligung der leistungsberechtigten Person.
Die Gesamtplankonferenz soll der Aufklärung und Vernetzung der beteiligten Akteure dienen, sie kann auch als Ergänzung zur Bedarfsermittlung durchgeführt werden, wenn trotz umfassender Gespräche zur Bedarfsermittlung unterschiedliche Auffassungen zum im Gesamtplan dokumentierten festgestellten Bedarf vorherrschen. Bei komplexen Bedarfslagen oder Fallkonstellationen können Gesamtplankonferenzen hilfreich sein, um bedarfsgerechte Unterstützung zu leisten. Sinn und Zweck ist immer die Sicherstellung von Leistungen und zwar orientiert an den Teilhabezielen der leistungsberechtigten Person. Beteiligt sein können neben dem Eingliederungshilfeträger weitere Leistungsträger (Bundesagentur für Arbeit, Pflegekasse etc.), die leistungsberechtigte Person sowie ihre Vertrauensperson, ggf. ein gesetzlicher Vertreter, ein Beistand oder auch weitere Personen, die mit den Kindern von Eltern mit Beeinträchtigungen zu tun haben, wie etwa Lehrer, betreuende Fachkräfte, Therapeuten etc.
Schönecker, Lydia (März 2021): Sofortiges Inkrafttreten des Gesetzes = sofortige Gesamtplanung! Vortrag zur 9. Plattform für öffentlichen Erfahrungsaustausch des Dialogforums „Bund trifft kommunale Praxis“, abrufbar unter: https://jugendhilfe-inklusiv.de/sites/default/files/difu_gesamtplanung_1...
Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Gesamtplanung in der Eingliederungshilfe und ihr Verhältnis zur Teilhabeplanung, verabschiedet am 18.6. 2019, 21 S.
Orientierungshilfe zur Gesamtplanung §§ 117 ff. SGB IX / §§ 141 ff. SGB XII der BAGüS, Stand Februar 2018, 21 S.
Quelle: https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Schwerpunkte/Bund...
Dokumentation der Ergebnisse des 6. Expertengesprächs „Entscheidungen im Dialog. Beteiligungsverfahren in der gemeinsamen Ausgestaltung von Leistungen für Kinder, Jugendliche und Familien“ am 28. und 29. Juni 2018 in Berlin. Unter: https://jugendhilfe-inklusiv.de/dokumentation/termin/31819