Mit Bedarfsermittlung ist sowohl in der Kinder- und Jugendhilfe als auch in der Eingliederungshilfe nach SGB IX der Vorgang zur Ermittlung von notwendigen und gewünschten (Teilhabe-)Leistungen/Hilfen für anspruchsberechtigte Personen gemeint (s. Bedarf ).
Seit dem 01.01.2018 gilt in der Eingliederungshilfe ein bundeseinheitliches Bedarfsermittlungsverfahren nach dem Bundesteilhabegesetz (§ 19 SGB IX Teilhabeplan und Kapitel 7 Gesamtplan §§ 117 ff SGB IX), das jeweils auf der Ebene der Länder genauer konkretisiert werden muss. Nach den Grundsätzen aus dem SGB IX erfolgt die Bedarfsermittlung in der Regel auf die Zuständigkeitsklärung unter den verschiedenen Rehabilitationsträgern, nachdem der Bedarf einer Person einem Rehabilitationsträger (s. Rehabilitationsträger) bekannt geworden ist. Die Bedarfsermittlung ist vom zuständigen Rehabilitationsträger nach einem bundeseinheitlichen Verfahren, d.h. auch auf der Grundlage bundeseinheitlicher Kriterien – systematisiert, standardisiert, funktionsbezogen und individuell – mit länderspezifisch ausgearbeiteten Instrumenten durchzuführen (vgl. dazu § 13 SGB IX).
Systematisiert: Systematische Arbeitsprozesse wie z.B.: Erhebungen, Analysen, Dokumentationen, Ergebniskontrollen
Standardisiert: Standardisierte Arbeitsmittel, wie z.B. Checklisten, Fragebögen, Assessment- oder Diagnoseinstrumente
Individuell und funktionsbezogen: Grundsätzlich nach dem bio-psycho-sozialen Modell der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
Die Bedarfsermittlung muss dokumentiert werden und nachprüfbar erfolgen. Das geschieht im Teilhabeplanverfahen. Erfasst werden soll (§ 13 Abs. 2 SGB IX), ob:
- eine Behinderung vorliegt oder einzutreten droht,
- welche Auswirkungen die Behinderung auf die Teilhabe hat,
- welche Ziele zur Teilhabe erreicht werden sollen,
- welche Leistungen im Rahmen einer Prognose zur Erreichung der Ziele voraussichtlich erfolgreich sind.
Die Bedarfsermittlung bildet die Basis für die Entscheidung über beantragte Leistungen; sie muss also zu einer sach- und fachgerechten Entscheidung über die erforderlichen und angemessenen Hilfen/Leistungen führen. Dabei sind auch Unterstützungen im Sozialraum sowie andere Leistungen und Träger zu berücksichtigen. Im Zentrum einer jeden Bedarfsermittlung (sowie der anschließenden Hilfeplanung) muss die Einbeziehung der antragstellenden Person – und im Falle von Kindern die Einbindung ihrer Eltern – eine Selbstverständlichkeit sein. Im BTHG ist die Beteiligung des Antragstellers/Leistungsberechtigten im gesamten Hilfeplanprozess verpflichtend festgeschrieben (vom Bekanntmachen des Bedarfs über die Bedarfsermittlung zur Festlegung der Teilhabeziele zum Leistungsbescheid und schließlich der Fortschreibung des Teilhabeplans/Gesamtplans/Hilfeplans/Förder- und Behandlungsplans). Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass Antragsteller*in, Leistungsträger und Leistungen ausführende Träger auf Augenhöhe kooperieren sollen.
Beteiligung und Mitbestimmung anspruchsberechtigter Personen im Kontext der Bedarfsermittlung sind in der Kinder- und Jugendhilfe insbesondere unter § 5 SGB VIII (Wunsch- und Wahlrecht), § 8 SGB VIII n.F. (Beteiligung von Kindern und Jugendlichen) und § 36 SGB VIII n.F. (Mitwirkung, Hilfeplan) rechtlich normiert. Die dort formulierten Grundsätze bleiben aber hinter den Regelungen aus dem § 8 SGB IX (Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten) und § 104 SGB IX (Leistungen nach Besonderheit des Einzelfalles) zurück, sofern es um die Berücksichtigung von „berechtigten Wünschen“ und die prioritäre Prüfung der Zumutbarkeit von Leistungen geht.
Für die Seite der Kinder- und Jugendhilfe gilt, dass die Bedarfsermittlung vom Jugendamt (in der Regel: ASD/KSD/RSD) als Teil des Hilfeplanverfahrens nach § 36 SGB VIII n.F. durchgeführt wird.
In § 36 SGB VIII n.F. (Mitwirkung/Hilfeplan) heißt es nun:
(1) Der Personensorgeberechtigte und das Kind oder der Jugendliche sind vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe und vor einer notwendigen Änderung von Art und Umfang der Hilfe zu beraten und auf die möglichen Folgen für die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen hinzuweisen. Es ist sicherzustellen, dass Beratung und Aufklärung nach Satz 1 in einer für den Personensorgeberechtigten und das Kind oder den Jugendlichen verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form erfolgen.
Im neu eingefügten Absatz 5 außerdem:
(5) Soweit dies zur Feststellung des Bedarfs, der zu gewährenden Art der Hilfe oder der notwendigen Leistungen nach Inhalt, Umfang und Dauer erforderlich ist und dadurch der Hilfezweck nicht in Frage gestellt wird, sollen Eltern, die nicht personensorgeberechtigt sind, an der Aufstellung des Hilfeplans und seiner Überprüfung beteiligt werden; die Entscheidung, ob, wie und in welchem Umfang deren Beteiligung erfolgt, soll im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte unter Berücksichtigung der Willensäußerung und der Interessen des Kindes oder Jugendlichen sowie der Willensäußerung des Personensorgeberechtigten getroffen werden.
Das im Rahmen des Hilfeplanverfahrens eingesetzte Bedarfsermittlungsinstrument muss seit 2018, der zweiten Reformstufe des BTHG’s, ebenfalls den Anforderungen nach § 13 SGB IX n.F. genügen. Momentan wird in den einzelnen Bundesländern in unterschiedlicher Intensität an der Anpassung und praktischen Anwendung ICF/ICF-CY basierter Instrumente zur Bedarfsermittlung gearbeitet. Noch liegen keine systematisch aufgearbeiteten Erfahrungen zur Anwendung der ICF/ICF-CY in der kommunalen Praxis der Eingliederungshilfe und der Kinder- und Jugendhilfe vor. Im Kontext der Weiterentwicklung der Instrumente ist auf jeden Fall die Frage zu beantworten, wie insbesondere auch die umwelt- und einstellungsbezogenen Kontextfaktoren im Rahmen einer standardisierten Bedarfsermittlung angemessen berücksichtigt werden können.
In diesem Zusammenhang ist für das Jugendamt als zuständiger Rehabilitationsträger für Kinder und Jugendliche mit (drohender) seelischer Behinderung (§35 a SGB VIII) auch das Verhältnis zwischen erziehungsbedingten Bedarfen (meint: die erzieherische Situation als Umweltfaktor für das Kind) und behinderungsbedingten Bedarfen (meint: die Beeinträchtigung eines Menschen im Zusammenspiel mit weiteren einstellungs- und umweltbedingten Barrieren in seiner Lebenswelt) durch die Fachkräfte in den Blick zu nehmen (vgl. Schönecker 2018). Aufgrund der aktuellen Entwicklungsprozesse in den einzelnen Ländern im Bereich der Bedarfsermittlungsinstrumente und ihrer Anwendung in der Praxis, sind die aus einer ICF-CY basierten Bedarfsermittlung im Feld der Kinder- und Jugendhilfe resultierenden potenziellen Konsequenzen für Kinder, Jugendlichen und ihre Familien, die auf eine Bewilligung beantragter Leistungen warten, noch nicht recht absehbar. Die Bewilligung von Hilfen/Leistungen darf jedenfalls grundsätzlich nicht abhängig von der Einwilligung der Sorgeberechtigten zur Inanspruchnahme von erzieherischen Hilfen gemacht werden. Rechtlich als auch in der fachlichen Umsetzung ist demnach klarzustellen, dass eine körperliche, geistige oder seelische Beeinträchtigung zwar in Wechselbeziehung zum Erziehungsverhältnis zwischen Kind/Jugendlichem und Sorgeberechtigten steht und insofern Einfluss auf die Teilhabemöglichkeiten haben kann. Zugleich darf aber die Gewährung von Teilhabeleistungen nicht an die Inanspruchnahme von erzieherischen Hilfen gebunden werden, denn nicht nur bedürfen letztere aufgrund Art. 6 Abs. 2 GG grundsätzlich immer der freiwilligen Zustimmung durch die Sorgeberechtigten, sondern handelt es sich bei den Teilhabeleistungen auch um menschenrechtliche Hilfeansprüche des Kindes, die grundsätzlich bedingungslos zu gewähren sind.
Mit dem Begriff Bedarfsfeststellung ist demgegenüber allein die formale Konkretisierung eines bestehenden individuellen Bedarfs gemeint. Mit der Bedarfsfeststellung, zu verstehen als Verwaltungsakt, wird dem/der Antragsteller*in mitgeteilt, welche von den im Rahmen der Bedarfsermittlung erhobenen Bedarfe durch das Sozialleistungssystems anerkannt werden. Mit dem Leistungsbescheid als weiterem Verwaltungsakt wird formal die Bewilligung der in der Bedarfsfeststellung mitgeteilten Leistungen vollzogen.
Die Fachverbände für Menschen mit Behinderung (04.07. 2014): Vorstellungen der Fachverbände für Menschen mit Behinderung zur Bedarfsermittlung und Bedarfsfeststellung der Leistungen nach dem Bundeteilhabegesetz. 20 S. unter: https://www.diefachverbaende.de/files/stellungnahmen/2014-07-16-Vorstellungen-der-Fachverbaende-zur%20Bedarfsermittlung-und-Bedarfsfestellung-der-Leistungen-nach-einem-Bundesteilhabegesetz.pdf (letzter Aufruf am 25.07.2019).
Coester, Ruth; Müller-Fehling, Norbert (2017): Ein neuer Anlauf für die Inklusive Lösung. Vorstellungen der Fachverbände für Menschen mit Behinderung zu einer Reform des SGB VIII. In: Das Jugendamt, Heidelberg: Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht; 90 Jg., Nr. 10, S. 476-480.
Gemeinsame Empfehlungen zum Reha-Prozess von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) (2019), 104 S.
Schönecker, Lydia (2018): Erzieherischer Bedarf als Prüfpunkt bei Teilhabeleistungen. In: Dialog Erziehungshilfe, Hannover: AFET - Bundesverband für Erziehungshilfe e.V.; Nr. 4/2018, S. 26-29.
Smessaert, Angela (2018): Auf zu einem zweiten Anlauf! Zur Weiterführung der Debatte um ein inklusives SGB VIII. In: Forum Jugendhilfe, Nr. 1/2018, S. 52-60.
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm hat in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) und in enger Kooperation mit sechs Jugendämtern ein onlinebasiertes Instrument zur Einschätzung von Teilhabebeeinträchtigungen nach § 35a SGB VIII entwickelt.
Siehe: Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm (Hrsg.) (2019) Broschüre Teilhabebeeinträchtigungen von Kindern und Jugendlichen mit (drohender) seelischer Behinderung erkennen. Rechtliche Anforderungen an die Einschätzung nach Änderungen durch das Bundesteilhabegesetz und Vorstellung eines darauf abgestimmten Instruments für die Jugendhilfe.
Orientierungshilfe zur Gesamtplanung §§ 117 ff. SGB IX / §§ 141 ff. SGB XII der BAGüS, Stand Februar 2018, 21 S.