Mit dem am 10.06.2021 in Kraft getretenen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) sind zunächst keine Änderungen bezüglich der Anspruchsinhaberschaft zu verzeichnen.
Das KJSG behält die Trennung zwischen Rechtsansprüchen der Eltern und Rechtsansprüchen der Kinder und Jugendlichen wie bislang gültig bei. Ob die Frage im Kontext der geplanten Reform zur Gesamtuständigkeit der Kinder-und Jugendhilfe für ALLE Kinder und Jugendlichen ab 2027/28 in den Fachdebatten neu aufgerollt werden wird, ist aktuell nicht absehbar.
Bislang ist die Frage nach der Anspruchsinhaberschaft als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Leistungen aus dem Bereich SGB VIII bzw. aus dem Bereich der Eingliederungshilfe (SGB IX und SGB XII) folgendermaßen gestaltet:
Bei den Hilfen zur Erziehung (HzE, §§ 27-35 SGB VIII) sind die Personenberechtigten, zuvorderst also die leiblichen Eltern, Anspruchsinhaber.
Bei Leistungen der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung gem. §35 a SGB VIII bzw. jungen Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen gem. § 53 SGB XII, liegt die Anspruchsinhaberschaft hingegen auf Seiten des Kindes bzw. des Jugendlichen selbst.
Vor diesem Hintergrund wurde im Zuge der Debatten um eine Novellierung des SGB VIII im Sinne einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe die Frage nach der Anspruchsinhaberschaft intensiv diskutiert. Es stand die Frage im Raum, ob – über einen notwendigerweise beim jungen Menschen selbst verorteten Hilfeanspruch auf Eingliederungshilfe – auch der Anspruch auf Hilfen zur Erziehung (§ 27 ff SGB VIII) bei den jungen Menschen und/oder ihren Sorgeberechtigten liegen sollte.
Als Begründungslinien für die Einführung eines Rechtsanspruchs auch auf Seiten der Kinder und Jugendlichen in den HzE wurde zum einen die Kinderrechtsdebatte ins Feld geführt. Sollte insbesondere die spezifische Lebenslage von Jugendlichen – zunehmend eigenständig und auf dem Weg in die Autonomie vom Elternhaus – im SGB VIII hinreichend Berücksichtigung finden, sei die Gewährung eines eigenen Rechtsanspruchs nahezu zwingende Konsequenz. In diese Stoßrichtung zielte auch das Argument aus einer Stellungnahme der AGJ aus dem Jahr 2013: Da Kinder und Jugendliche letztlich immer Adressaten der Kinder- und Jugendhilfe sind, sei es nur folgerichtig, ihnen auch einen eigenen Rechtsanspruch in den HzE zu gewähren. Zum anderen wurde – vor allem aus den Fachverbänden der Behindertenhilfe – gefordert, dass die in der Kinder- und Jugendhilfe traditionell gewachsene familiensystemische Betrachtung des jeweiligen Falls auch in der (Eingliederungs)Hilfeplanung für Kinder und Jugendliche Normalität werden sollte. Eben jene familiensystemische Betrachtung beiße sich aber – so Stimmen von Vertreter*innen aus der KJH und der Behindertenhilfe gleichermaßen – mit der bisher noch gültigen Entweder-Oder-Zuweisung des Rechtsanspruchs nur an die Eltern (§§ 27 ff SGB VIII) bzw. nur an die jungen Menschen (§ 35a SGB VIII und § 53 SGB XII) (vgl. Schönecker 2018 und Dokumentation 2. Expertengespräch des Dialogforums, S. 45).
Gerade bei komplexen Bedarfslagen (etwa: Kinder psychisch kranker Eltern, Kinder von Eltern mit intellektuellen Beeinträchtigungen, Pflegekinder mit Beeinträchtigungen) ist der Einsatz flexibel gestaltbarer und individuell zugeschnittener Unterstützungsleistungen notwendig. Dazu könnte die Gestaltung eines Sowohl-als-auch-Rechtsanspruchs – also sowohl auf Seiten der Kinder und Jugendlichen als auch auf Seiten der Eltern – hilfreich sein.
Insbesondere im Zusammenhang mit den Diskussionen zur „Zusammenführung der Leistungen der Hilfen zur Erziehung (HzE) und der Eingliederungshilfe“ (ehemals: einheitlicher Tatbestand oder auch: Einführung eines neuen Leistungstatbestandes „Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe“ in das SGB VIII) wurde und wird die Frage nach der Anspruchsinhaberschaft intensiv diskutiert.
Coester, Ruth; Müller-Fehling, Norbert (2017): Ein neuer Anlauf für die Inklusive Lösung. Vorstellungen der Fachverbände für Menschen mit Behinderung zu einer Reform des SGB VIII. In: Das Jugendamt, Heidelberg: Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht; 90 Jg., Nr. 10, S. 476-480.
Schönecker, Lydia (2018): Inklusive Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Von der Konstruktion zweier Hilfesysteme unter einem Dach und den dafür zu betrachtenden Zwischenräumen. In: Dialog Erziehungshilfe, Hannover: AFET – Bundesverband für Erziehungshilfe e.V.; Nr. 1/2018, S. 9-16.
Zusammenführung der Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfen im SGB VIII. Eine fachlich-inhaltliche Positionierung. Dokumentation der Ergebnisse des 2. Expertengesprächs am 26. und 27. Oktober 2017 in Berlin. Unter: https://jugendhilfe-inklusiv.de/sites/default/files/EXP-Dokus/ergebnis_exp_2.pdf